Die Blickfängerin. Eva Schörkhuber
festhalten, nicht sammeln dürfte. Dass ich dabei ein Recht verletze, das ihnen, solange sie unbescholten, solange sie unverdächtig sind, zusteht, das ihnen ohne Weiteres zugestanden wird, sofern sie einfach wie Herrfrau Ixüpsilon aussehen, sie, deren Blicke ich auffange, festhalte und zuordne. In meinen Augen aber ist keiner von ihnen unverdächtig. Ist es doch meine Aufgabe, sie beim Betreten des Ganges, des kleinen, schmalen, zu beobachten, jede ihrer kleinsten Regungen wahrzunehmen, an ihnen abzulesen, ob sie etwas im Schilde führen, und im Verdachtsfall Alarm zu schlagen. Nun hat es die vielen Jahre, in denen ich meine langen Tage hier, vor dem Bildschirm, schon verbracht habe, keinen Verdachtsfall gegeben. Es hat noch keinen Verdachtsfall gegeben, und ich bin jeden weiteren Tag mehr davon überzeugt, dass es bald, sehr bald so weit sein wird. Dass in nächster Zukunft jener Tag kommen wird, an dem ich den roten Knopf, der schräg über meinem Kopf von der Wand herunterleuchtet, betätigen werde, dass der Sicherheitsmann, durch die Betätigung meines Knopfes aus seiner Kammer gerufen, kommen wird, dass das verdächtige Subjekt gestellt, zur Rede gestellt und hinausbefördert werden wird. Im Übrigen habe ich den Sicherheitsmann noch nie gesehen. Er sitzt in seiner Kammer neben dem Aufzug, am Ende des Ganges, des kleinen, schmalen, und wartet auf meinen Knopfdruck. Was ich nicht sehe. Was ich aber weiß. Einmal von furchtbarer Neugier geplagt, wollte ich den Knopf schon betätigen, ohne tatsächlich gegebenen Anlass, ich wollte diesen Fehlalarm auslösen, um endlich, endlich den Sicherheitsmann zu Gesicht zu bekommen, ihn, mit dem ich meine langen Tage hier verbringe, ohne ihn zu sehen. Was mich schrecklich quält. An diesem Tag, an dem ich mich per Knopfdruck von meiner furchtbaren Neugier erlösen wollte, an diesem Tag hat mich ein flüchtiger Blick daran gehindert, davor bewahrt, den roten Knopf auf unlautere Art und Weise zu betätigen. Der Blick, der mir an diesem Tag zugeworfen wurde, ist in einem besonders bemerkenswerten Moment aufgeflogen. Diejenige, die mir an diesem Tag den allerflüchtigsten Blick zugeworfen hat, diejenige hat sich auf ihrem Weg unbedarft, ja arglos gezeigt; als wäre sie meiner nicht gewahr, ist sie über den Gang, den kleinen, schmalen, gesprungen, Rösselsprünge, die der Schwerkraft so schrittweise sprunghaft zu trotzen versuchen. Im allerletzten Moment erst, kurz bevor sie den Aufzug erreicht und sich also aus meinem Bild gestohlen hätte, hat sich zu meiner größten Überraschung von ihrem Gesicht dieser Blick gelöst, ist dieser Blick aufgeflogen und mir, mir zugeflogen. Darüber, über ihn, diesen außerordentlich flüchtigen Blick, habe ich mein Vorhaben, den Knopf ohne tatsächlich gegebenen Anlass zu betätigen, vergessen. Üblicherweise zeigen diejenigen von ihnen, die sich auf den Weg machen den Gang entlang, den kleinen, schmalen, die ihrer Wege gehen über den grauen Linolboden, der immer etwas nach Spülmittel riecht, üblicherweise zeigen diejenigen die auffälligsten, die augenscheinlichsten Regungen, die sich völlig unbeobachtet wähnen, die meiner in keiner Weise gewahr sind. Jenen, die derart arglos ihrer Wege gehen und mir also keine Blicke zuwerfen, ihnen sehe ich dabei zu, wie sie sich den Kopf kratzen, wie sie in der Nase bohren, wie sie ein Taschentuch aus ihrer Manteltasche nesteln, wie sie eine Kaugummiblase fabrizieren und den durchgekauten Kaugummi dann auf den Linolboden spucken, ich sehe ihnen bei ihren kleinen, ihren nebensächlichen Verrichtungen zu und weiß, dass von ihren Gesichtern kein Blick auffliegen wird, den ich festhalten, den ich in mein Archiv aufnehmen kann.
Alle, die in meinem Bilde sind, alle glauben, ihren Weg zu gehen, ihrer Wege zu gehen über den grauen Linolboden, der immer etwas nach Spülmittel riecht. Tatsächlich aber gehen sie, sie alle, nur einen Gang entlang, einen kleinen, schmalen, um zum Aufzug zu gelangen, der sie in eine untere oder eine obere Etage bringt. Ob sie nun auf dem Weg in eine untere oder in eine obere Etage sind, in jedem Fall erwartet sie ein weiterer Gang, den sie auf einem anderen grauen Linolboden, der wahrscheinlich immer etwas nach Spülmittel riecht, fortsetzen werden, der sie früher oder später an eine Tür führen wird, hinter der sich ein telefonierender Empfangsherr oder eine telefonierende Empfangsdame befindet, die sie warten lässt, bis sie ihr Anliegen vorbringen, ihr Anliegen zur Sprache, zu einer Sprache bringen können, die einmal Gehör findet, das andere Mal nicht. Alle, die sich zum ersten Mal auf den Weg machen den Gang entlang, den kleinen, schmalen, sie alle wissen nicht, dass sie nicht ihrer Wege gehen, dass sie vielmehr dabei sind, einen Amtsweg zu beschreiten, der sie an kein Ende führen wird. Früher nicht. Später nicht. Dass sie einige Male diesen Gang, den kleinen, schmalen entlanggehen müssen, um zum ersten Mal vorgelassen zu werden, von dem Empfangsherren oder der Empfangsdame vorgelassen zur Sachbearbeiterin, zum Sachbearbeiter. Dass sie, einmal vorgelassen, aufgefordert werden, wiederzukommen, ein anderes Mal wiederzukommen, in ein anderes Büro, um ihr Anliegen einer anderen Empfangsdame oder einem anderen Empfangsherren vorzutragen. Gleichgültig, wie oft sie diesen Gang schon gemacht, ihn schon entlanggegangen sind, ihn, den kleinen, schmalen, sie alle halten daran fest, ihrer eigenen Wege zu gehen. Sie können nicht anderes, als daran zu glauben. Sie. Alle. Und ich, ich kann nicht anders, als die Blicke aufzufangen, die Blicke der einigen, die Blicke, die einige von ihnen mir zuwerfen, festzuhalten, einzuordnen. Ich kann nicht anders. Ich muss die Gelegenheit, Blicke aufzufangen, sie festzuhalten, immer wieder beim Schopf packen, diese Gelegenheit, die mir gegeben, so glücklich gegeben ist durch diese Stelle, diese Anstellung vor dem Bildschirm. An anderer Stelle würde mir kein einziger Blick zugeworfen werden, kein einziger Blick zufliegen, mir mit dem Knoten im Nacken und dem Stoffsegel am Kopf. Außerhalb meiner Koje, in der es immer dunkel ist, um das Bild auf dem Schirm gut sehen zu können, außerhalb dieser Koje bin ich unsichtbar, für die meisten so gut wie unsichtbar. Auf der Straße treffen mich Blicke stets wie Streifschüsse, zufällig, unbeabsichtigt, und wenn mir tatsächlich einmal einer zukommt, ein Blick, was sehr selten ist, wenn mir tatsächlich einmal einer zukommt, dann wird er mir nicht zugeworfen, dann fliegt er mir nicht zu, sondern: Er pirscht sich heran, dieser Blick, er schleicht unentschlossen um mich herum, um sich dann plötzlich auf mich zu werfen, um sich mir überzustülpen wie ein Schneckenmaul. Er hängt dann, er klebt dann an mir, dieser Blick, und saugt sich fest. Mitleidig. Vorwurfsvoll. Verächtlich. Im Grunde bin ich froh darüber, dass ich für die meisten auf der Straße so gut wie unsichtbar bin. Dass sie mich übersehen, die meisten. Dass sie davon absehen, ihren Blick auf die Pirsch zu schicken, mir ihren Blick überzustülpen. Ich brauche sie nicht, diese Blicke. Ich habe ja die anderen, die anderen Blicke, die mir zugeworfen werden, die mir zufliegen, wenn ich in meiner dunklen Koje sitze vor dem Bildschirm, die Blicke, die ich auffange von den einigen, von einigen von ihnen, die sich auf den Weg machen den Gang entlang, den kleinen, schmalen, die ihrer Wege gehen über den grauen Linolboden, der immer etwas nach Spülmittel riecht. Auch deshalb halte ich diese Blicke fest, auch deshalb sammle ich sie, ordne sie ein, ordne sie zu. So verschaffe ich mir einen, ja meinen Überblick über die Welt, die mir außerhalb meiner Koje so gut wie nichts zu sagen hat. Das, was ich sehe von der Welt, von dieser Welt, das sehe ich durch sie, meine gesammelten, meine archivierten Blicke. Durch sie, die aufgefangenen, die festgehaltenen und eingeordneten Blicke, komme ich zur Welt.
I. Flüchtiger Blick 18:28:17 (Flügel)
Filmstill, vermutlich von einem Überwachungsband, auf jeden Fall von einem Bildschirm abfotografiert: Lichtreflexe und eine Spiegelung – Finger, die sich um ein Kameragehäuse krümmen. Das Filmbild schwarzweiß, etwas körnig. Die Aufnahme in Farbe. Am rechten unteren Rand des Bildschirms das Datum und die Uhrzeit auf die Sekunde genau, neongrün. Auf dem Bildschirm ein Mann mittleren Alters. Im Anzug. Setzt gerade den rechten Fuß eine Schrittlänge vor dem linken auf. In den Händen eine Zeitung, auseinandergefaltet. Den Kopf leicht nach vorn geneigt, der Zeitung zu. Die Stirnfalten nach oben gewölbt. Die Augenbrauen nach oben gezogen. Die Augen nach oben gerichtet.
Eines der schönsten Stücke aus meinem Blick-Archiv, das ich im Laufe der Jahre, die ich vor dem Bildschirm in meiner Koje verbracht und damit zugebracht habe, die Blicke der einigen, einiger von ihnen, aufzufangen und festzuhalten, angelegt, erstellt habe, eines der schönsten Stücke daraus ist der Flüchtige Blick 18:28:17. Er ist eines Tages aufgeflogen aus einem Gesicht, das sich, in eine Zeitung vertieft, auf den Weg gemacht hat den Gang entlang, den kleinen, schmalen, er hat es so eilig gehabt, sich von diesem schlagzeilenverhangenen Gesicht abzusetzen, dass er sich beinahe verhaspelt, beinahe seinen Sprung, seinen Absprung versäumt hätte. Und doch hat er es geschafft, aufzufliegen, so schnell, so eilig, dass nicht im Entferntesten eine bestimmte Absicht auszumachen gewesen ist. Er, einer der flüchtigsten und daher wundervollsten Blicke, die ich aufgefangen habe, er hat mich tagelang beschäftigt. Tagelang habe ich nach guten Gründen