Die Blickfängerin. Eva Schörkhuber
schwimmbeflügelter Menschen. Ich bin so erschrocken darüber, dass ich sofort kehrtgemacht und mich in die Kirche zurückgezogen habe, aus einem, wie mir heute scheint, filmreifen Instinkt heraus.
II. Flüchtiger Blick 22:20:07 (Schlaf)
Kurzfilm, Farbe; schwarze und dunkelgraue Flächen zittern im Bild; ein heftiger Schwenk, bei dem sich eine orange-rote Lichtspur durch das Bild zieht; ein Haufen dunkler Flecke, dunkelgrau, dunkelbraun, dunkelgrün; starkes Bildrauschen; Totale auf den dunklen Haufen, verwackelt. Irgendetwas bewegt sich in dem Haufen, Zoom. Extrem körniges Bild; ein paar hellere Sprenkel in dem grau-blau-grünen Flecken-Haufen; Bewegungen, in der Mitte des Bildes sowie am linken oberen Rand rutschen die dunklen Flecken ineinander, übereinander, zwei der helleren Sprenkel tanzen auf dunklem Hintergrund vor und zurück, vor und zurück. Schwenk nach unten, eine schwarz-graue Fläche, zwei dunkle abgerundete Flächen (Schuhspitzen wahrscheinlich) darauf. Black.
Wenn ich heute diesen Blick betrachte, den ersten Flüchtigen Blick, den ich gefilmt habe, diesen Flüchtigen Blick 22:20:07, wenn ich mir die Aufnahme heute ansehe, dann leuchtet mir ein, dass es gerade dieser Blick gewesen sein wird, der mich darauf gebracht, der mich dazu gebracht hat, meine Filmserien zu beginnen. In meiner dunklen Koje, immer noch bereit, die Blicke der einigen aufzufangen, festzuhalten, die Blicke einiger von ihnen, die sich auf den Weg machen den Gang entlang, den kleinen, schmalen, die ihrer Wege gehen über den grauen Linolboden, der immer etwas nach Spülmittel riecht. Auf dem Bildschirm in meiner dunklen Koje betrachte ich diesen ersten gefilmten Flüchtigen Blick 22:20:07. Er ist der letzte Flüchtige Blick aus meinem alten Blick-Archiv und gleichzeitig der erste aus dem neuen, um die Filme und Filmserien erweiterten. Die Aufnahme ist, nach meinen heutigen Maßstäben und Ansprüchen, ausgesprochen schlecht. Die Bilder rauschen furchtbar, sie rauschen so laut, dass ungeübte Augen so gut wie nichts hören können von den Farbtönen, den Schattierungen und Konturen. Körnige Flecke unbestimmter Farbe sind es für unbedarfte Augen, doch für mich, in meinen Augen, sind diese körnigen Flecke die schlafenden Menschen und darunter derjenige schlafende Mensch, aus dessen Gesicht sich um zweiundzwanzig Uhr zwanzig ein flüchtiger Blick lösen, ein flüchtiger Blick auffliegen wird zu mir, zu mir hinter der Kamera.
Ich bin, nach meiner etwas überstürzten Flucht aus diesem Park voll orange beflügelter Menschen, in die Kirche hineingegangen, bei meinem Eintritt schon umwölkt von steinerner Kälte, diffuser Dunkelheit und Kirchen-Dunst. Natürlich haben sich zu diesem Zeitpunkt kaum Menschen in der Kirche aufgehalten. Was ich nicht sofort bemerkt habe. Was mir erst nach einigen Minuten aufgefallen ist. Aufgefallen ist mir diese Menschenleere in der Kirche, als sich meine Augen hinter dem Sucherglas hervorgewagt haben und sich die diffuse Dunkelheit zu lichten begonnen hat, eher zu dämmern als sich zu lichten, um genau zu sein. In der dämmrigen Dunkelheit des Kirchenschiffes habe ich die angehäuften Decken, die angehäuften Schlafsäcke als Lagerstatt, bei näherer Betrachtung als bunte Liegestatt ausmachen können. Angesichts der Menschenleere, von der steinernen Kälte in Beschlag genommen, habe ich mir eine Decke ausgesucht und mich in ein Eck zurückgezogen. Abwartend. Die Kamera griffbereit, um mich sofort hinter das Sucherglas zurückziehen zu können. Nach einiger Zeit haben sie sich wieder eingefunden in das Kirchenschiff, die protestierenden, die hungerstreikenden, die unterstützenden Menschen. Die meisten einigermaßen gut ausgerüstet für die steinerne Kälte, die diffuse Dunkelheit, den Kirchen-Dunst. Notiz hat, soweit ich das gesehen habe, keiner von mir genommen, von mir mit dem Kopfsegel hinter dem Sucherglas. Wenig haben sie gesprochen, diese Menschen, die sich im Kirchenschiff verschanzt haben, um der Welt, wie sie sich ihnen gegenüber verhält, zu trotzen. Das wenige An- und Ausgesprochene hat von einem bereits eingespielten Alltag hier, in diesem Kirchen-Fort, erzählt. Nach ein paar Stunden, die mir wie im Flug vergangen sind, so sehr gebannt bin ich gewesen von Kälte, Furcht und Staunen, nach den paar verflogenen Stunden haben sich alle auf die bunte Liegestatt gebettet. Eingewickelt in Schlafsack und Decken hat jeder, hat jede für sich begonnen, den Schlaf zu suchen. Und ich, ich habe begonnen, mich langsam vor-, mich schrittweise heranzutasten an die Schlafstätte, zögerlich prüfend, ob denn auch alle schon ihren Schlaf gefunden hätten. Einen Kanon tiefer Atemzüge, geschlossene, leicht schwingende Augenlider habe ich vorgefunden und beschlossen, mir Bilder von dieser Partitur schlafender Körper zu machen. Ich habe also begonnen, zu filmen, mich vor die Liegestatt zu stellen und die Kamera einzuschalten. Das rote Licht hat mir meine filmende Präsenz bezeugt. Kein ewiges Licht, denn nach zehn Minuten hat es blau geblinkt auf meinem Display. Die Speicherkarte ist voll gewesen. Also habe ich den eben erst aufgezeichneten Film gelöscht und von Neuem begonnen. Das hat sich zwei, drei Mal wiederholt, bis sich der Flüchtige Blick 22:20:07 aus einem der schlafenden Gesichter gelöst hat und aufgeflogen ist. Ein bemerkenswert flüchtiger Blick, von einer Unwillkür, wie ich sie bislang noch nicht gesehen habe. Ein Schlafblick, vielleicht sogar ein Traumblick, den ich aufgefangen, den ich festgehalten habe. Zum ersten Mal auch seine Flugbahn festgehalten, aufgezeichnet den Weg, den mein Flüchtiger Blick zurückgelegt hat, dem geschlossenen, leicht schwingenden Augenlid entsprungen schnellt er hoch zu mir, weder sich selbst noch meiner irgendwo gewahr. Vollendete Unwillkür.
Ich muss sagen, dass die Erinnerung an den Flüchtigen Blick 22:20:07 einsichtiger ist als die Aufnahme, die trotzdem, trotz ihrer mangelhaften Qualität, eine meiner wichtigsten Aufnahmen ist. Mit ihr habe ich mein Filmschaffen, mein Blick haltendes, schließlich sogar Blick schaffendes Filmen begründet. Das furchtbare, die Farben, Schattierungen und Konturen übertönende Rauschen der Bilder hat mich dazu bewogen, mir im Laufe der darauffolgenden Woche eine bessere Kameraausrüstung zuzulegen, mich mit einer besseren Kamera zu versehen. Das hat mich freilich einiges gekostet. Es hat mich einiges gekostet, in ein Spezialgeschäft zu gehen, mich zu erkundigen, welche Filmkamera geeignet sei, um auch in dämmriger Umgebung brauchbare Aufnahmen zu machen, mich der Frage, was genau ich denn vorhabe mit dem Gerät, zu stellen beziehungsweise diese Frage so weit wie möglich zu umgehen. Dem jungen Mann, der mir einige Modelle gezeigt, mir die verschiedenen Preissegmente erklärt und mich schließlich gefragt hat, was ich denn genau vorhabe, diesem jungen, um mich und mein Vorhaben so bemühten Verkäufer habe ich gesagt, dass ich Dokumentarfilmerin sei, dass ich eine Serie über besetzte Häuser machen werde, dass ich also in Häusern drehen werde, in denen es kaum oder nur sehr mangelhafte Beleuchtung gebe. Rein technisch interessiert hat er sich gezeigt und gemeint: „Aha, besetzte Häuser, dort wird es keine guten Lichtquellen geben, manchmal wird denen ja auch der Strom abgedreht, und so können Sie auch keine Scheinwerfer verwenden.“ Gezeigt hat er mir schließlich ein kleines handliches Modell mit integriertem Scheinwerfer, der für Innenaufnahmen geeignet sei, sofern ich nicht vorhabe, einen ganzen Raum, sondern nur meine Interviewpartner oder sonstige Details auszuleuchten. Für dieses handliche Modell mit integriertem Scheinwerfer, den ich, wie das Blitzlicht bei meinem Fotoapparat, je nach Bedarf zu- oder abschalten kann, habe ich mich entschieden.
So bin ich also wieder zur Kirche gegangen, habe mich von meiner dunklen Koje aus auf den Weg gemacht, über die Straße, über die Brücke, die andere Seite des Kanals entlang bis zur großen Backsteinkaserne, dann die Allee hinauf, ausgerüstet dieses Mal mit der neuen handlichen Filmkamera und, statt der Schwimmflügel, mit dicken Schichten Stoff unter der Jacke und in den Schuhen. Keine Angst mehr, im Bauch dieses Kirchenschiffes unterzugehen, vielmehr die Befürchtung, von der steinernen Kälte, der diffusen Dunkelheit, dem Kirchen-Dunst allzu sehr in Beschlag genommen, benommen zu werden davon.
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