Subliminal. Thorsten Oliver Rehm
was genau man vorhatte; und er hatte sich geehrt gefühlt, dass er auserwählt worden war, diesem Quantensprung des medialen Zeitalters beizuwohnen, nein, ihn mitzugestalten. Es gab nur wenige Mitarbeiter der Filmproduktionsfirma, die eingeweiht waren. Die Anweisungen kamen von ganz oben. Woher die wiederum ihre Instruktionen bekamen, wusste er nicht, aber er ahnte, dass das Projekt sicherlich größere Kreise zog, denn es hing viel zu viel dran, es war zu komplex. Eines war sicher: Pink Rock war nur ein Rädchen im Getriebe. Aber die Idee hinter dem Ganzen – wer hatte die? Sein CEO? Woher hätte der dieses Wissen nehmen, wie das Konzept für die Umsetzung entwerfen sollen?
»Na los, schau rein!« Muhr klopfte drängend mit der freien Hand auf die Mappe. »Wir müssen loslegen, heute noch!«
»Bist du sicher?« Muhrs Kollege nahm die Mappe so zögerlich entgegen, als könnte er sich noch überlegen, die Anweisung anzunehmen oder nicht. Als hätte er eine Wahl. Welche Wahl? Sie hatten es begonnen, nun mussten sie es auch zu Ende führen. Zu Ende? Welches Ende? Vom Ende des Projekts waren sie weit entfernt, vielmehr war es ein Beginn. Der Beginn einer neuen Ära an Möglichkeiten. Keiner konnte absehen, wohin das alles führen würde, und es sah auch nicht danach aus, als ob es überhaupt jemals wieder gestoppt werden sollte.
»Außerdem sollen wir die Frequenz weit unter fünfzig Millisekunden drücken und die Abfolge der Icons nochmal umändern, wir nehmen die iGPX6 mit Einbettung«, fügte Muhr hinzu.
»Die Darbietungszeiten ändern? Das bringt doch nichts. Die meisten handelsüblichen Displays erreichen einfach noch nicht die volle Leuchtdichte. LC-Displays haben einfach physikalische Grenzen, gerade, was die Bildwiederholfrequenz angeht. Das ist alles für die Katz. Außerdem könnte die Frequenz möglicherweise zu kurz sein.«
Muhr starrte auf die Mappe. Streng vertraulich stand drauf. Als ob das nötig wäre! Waren sie im Filmgeschäft oder beim Geheimdienst?! Aber es stimmte schon: Die Hände, durch die Unterlagen wie diese gingen, gehörten allesamt zu Leuten, die genau wussten, dass nichts davon den Kreis der Eingeweihten verlassen durfte – sonst wären sie alle dran. Was sie taten, war nicht nur juristisch hoch problematisch – nein, es war schlicht verboten und vor allem ethisch fragwürdig. Sie hingen mit drin. Er hing mit drin.
Sawaan schlug die Mappe auf und überflog den Inhalt. »Die Masken verändern? Was soll das nun schon wieder. Wie oft sollen wir denn noch an den Störreizen was ändern?« Sawaan schüttelte genervt den Kopf und stieß hörbar den Atem aus.
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»Der in den letzten Jahren extreme Konsum medialer Gewalt?«
Natascha bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen. Bisher hatte sich der aufwendige Weg mitten in der Rush-Hour durch ganz München alles andere als gelohnt. Neu waren Stenzels Aussagen wirklich nicht.
»Verstehen Sie mich nicht falsch!«, fügte der Professor schnell an, so schnell, als könnte er hören, dass Natascha innerlich aufstöhnte, »auch ich schaue ab und zu gerne spannende Filme, und da geht es eben oft auch um Gewalt, beziehungsweise die spielt eben mit rein. Ist halt so. Es kommt jedoch darauf an, ob der Film eine berührende und sinnvolle Story hat oder ob es nur ein plumper B-Movie ist, in dem die Fetzen fliegen und der nahezu sinnfrei und einzig auf Brutalität ausgelegt ist, finden Sie nicht? Und es macht auch einen Unterschied, welches Ausmaß die Gewalt im Film einnimmt. Ich liebe gute Filme, vor allem spannende, und natürlich sind die nicht immer ohne Gewalt. Das Gehirn eines Erwachsenen kann damit recht gut umgehen – zumindest, wenn es nicht täglich und stundenlang und immer härter damit konfrontiert wird. Es entsteht nicht gleich ein Schaden.« Er machte eine abschwächende Handbewegung. »Die Dosis macht’s, wie so oft. Aber auch das Alter. Und darauf will ich hinaus. Es geht mir nicht nur um Filme, vielleicht sogar am wenigsten, sondern viel mehr um die extrem brutalen Computerspiele. Ich kann nachvollziehen, dass Kinder und Jugendliche und natürlich auch viele Erwachsene begeistert von Computerspielen sind, auch wenn ich selbst dem gar nichts abgewinnen kann. Mir geht es nicht darum, die Medien der heutigen Zeit zu verteufeln, sie haben auch ihre guten Seiten. Sie können sinnvolle Inhalte vermitteln, angenehme Gefühle stimulieren und bilden. Sie gehören einfach zu unserer heutigen Zeit! Nein, es geht mir um immer fragwürdigere, brutalere Inhalte, darum, dass diese Inhalte in immer stärkerem Maß von immer jüngeren Konsumenten konsumiert werden. Egal, ob im Fernsehen, im Internet oder bei einem Computerspiel. Und das ist ein Problem, wissenschaftlich betrachtet. Darum erzähle ich es Ihnen.« Stenzel hielt kurz inne. Er schien auf eine Reaktion von Natascha zu warten, als wolle er sich die Erlaubnis holen fortzufahren, in Sorge, das Gespräch mit seinem Monolog zu überfrachten. Er rückte seine Brille zurecht und strich sich mit einer Hand nachdenklich über den weißgrauen Vollbart. Nach ein paar Sekunden fuhr er fort: »Im Rahmen von Hirnscans lässt sich eindeutig nachweisen, dass bei täglichem Konsum von Gewaltdarstellungen die Spiegelneuronen-Aktivität im Hirn abstumpft. Das Empfängergehirn stumpft ab – der Mensch stumpft ab. Es ist so simpel wie alarmierend. Und das gilt für Kinder, Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen; allerdings ist es so, dass sich diese Veränderungen in den Hirnstrukturen junger Menschen vielfach intensiver und langfristiger vollziehen, da das Gehirn bei ihnen besonders stark auf Wachstum und Lernen ausgelegt ist. Studien belegen, dass das Gehirn eines achtjährigen Kindes beispielsweise nur zu 22% genetisch geprägt ist – den größten Anteil haben also äußere Einflüsse welcher Art auch immer und ganz egal, ob Signale bewusst oder…«, er stockte kurz und rieb sich mit der Hand den Bart. Dann räusperte er sich. »…oder unbewusst aufgenommen werden und es auf dem Nährboden der Emotionen zu Reaktionen im Hirn kommt und sich somit neuronale Muster verfestigen.« Stenzels Blick wanderte unruhig – fast unsicher wirkend – durch den Raum. Er machte eine unverhältnismäßig lange Sprechpause und schien seine nächsten Worte genau abzuwägen. »Im schlimmsten Fall ist jemand überhaupt nicht mehr in der Lage, Mitgefühl zu empfinden. Er kennt infolgedessen auch Bedauern, Schuld oder Reue kaum, manchmal sogar gar nicht.«
»Es kann doch aber nicht sein, dass wir Menschen durch Beeinflussung der Spiegelneuronen-Aktivität uns im Extremfall zu Psychopathen entwickeln? Das wäre ja eine Horrorvorstellung!«
»Moment. Das müssen wir schon differenzieren. Was ist ein Psychopath? Heute weiß man, dass das Gehirn von Psychopathen und auch von Soziopathen meist extrem wenig oder oftmals auch gar keine Spiegelneuronen-Aktivität aufweist. Die Hirnbereiche, die fürs Verständnis von Emotionen zuständig sind, verfügen über weniger graue Hirnmasse als die der meisten anderen Menschen.«
»Graue Hirnmasse?« Wollte der Mann nicht verständlich reden?
»Bitte, verzeihen Sie, ich schweife ab. Ich wollte darauf hinaus, dass solchen Menschen zwar ansatzweise die bereits erwähnte kognitive Perspektivenübernahme ihres Gegenübers gelingt – aber es kommt zu keiner echten emotionalen Anteilnahme. Den Unterschied hatte ich erläutert. Das Leid des anderen lässt solche Menschen innerlich kalt, die kognitive Anteilnahme benutzt so jemand dann vor allem, um sein Gegenüber zu manipulieren. Neueste Studien legen nahe, dass die psychopathische Persönlichkeitsstruktur vorrangig genetisch bedingt ist.«
»Um Psychopathen soll es in meiner Reportage aber ja nicht gehen. Vielleicht habe ich mich etwas missverständlich ausgedrückt, Herr Professor«, bremste Natascha ihn. »Eher geht es um das zunehmend kühler werdende zwischenmenschliche Miteinander in unserer Gesellschaft.«
»Ja, ich weiß. Auf der Leiter von normaler Spiegelneuronen-Aktivität über ihre Verminderung bis hin zum totalen Fehlen finden Sie unzählige Ausprägungen, die wiederum die Emotionen und das Verhalten mehr oder weniger stark steuern. Es ist ja zum Glück so, dass Extremfälle nur einen kleinen Teil ausmachen – die absolute Minderheit. Nicht auszudenken, wenn es anders wäre! Es ist im Gegenteil so, dass Menschen mit stark eingeschränkter Spiegelneuronen-Aktivität oft fest in die Gesellschaft integriert sind. Mit ihrer in der Regel hohen Intelligenz und oft auch starken Anziehungskraft nehmen sie andere für sich ein, um ihre eigene Macht zu vergrößern. Wie Raubtiere unterwerfen sie ihr Umfeld, lügen und betrügen und bereichern sich auf Kosten anderer, ohne schlechtes Gewissen. Oft täuschen sie gute Absichten vor – doch das Wohl anderer ist ihnen völlig egal. Sie wissen genau, was die Gesellschaft von ihnen erwartet, und passen sich daran an, doch letztlich verfolgen sie nur ihre eigenen Interessen. Durch die verringerte, oft kaum mehr vorhandene Aktivität der Spiegelneuronen