Die Chroniken der Wandler. Laura Schmolke
Es ist auch falsch, Schüler mächtige Fähigkeiten zu lehren, denn niemand weiß, wozu sie diese einmal einsetzen werden.
Mingan saß aufrecht in dem Sessel hinter seinem breiten Schreibtisch und musterte Ailina und Felicitas abschätzend.
„Ihr seid weit gekommen in den letzten sechs Monaten“, erklärte er schließlich. „Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir einen Schritt weitergehen.“ Er schwieg kurz. „Ihr habt inzwischen gelernt, Materie aus Energie zu formen. Aber wie man Energie aus Materie zieht, hat man euch noch nicht gezeigt. Aus gutem Grund, möchte ich bemerken. Die Techniken, die ich euch in den nächsten Wochen versuchen werde beizubringen, sind nicht nur schwierig, sondern vor allem auch sehr gefährlich: die Anevay-Techniken.“
Felicitas und Ailina wechselten einen ratlosen Blick. Sie hatten noch nie etwas von diesen Anevay-Techniken gehört.
„Wir müssen dafür rausgehen, deswegen solltet ihr euch wärmer anziehen. Wir treffen uns dann im Wald. Bitte benutzt die kleine Hintertür.“
Als Felicitas und Ailina ungesehen durch die Hintertür schlüpften, empfing sie die Dunkelheit der Nacht. Es dauerte einige Augenblicke, bis ihre Augen sich an die Finsternis gewöhnt hatten.
Dann erst bemerkten sie die schmalen Streifen aus Licht, die aus den hell erleuchteten Fenstern des Schlosses fielen und den Schnee zu ihren Füßen zum Glitzern brachten. Mond und Sterne wurden von Wolken verdeckt.
„Es ist so lange her, dass ich draußen war. Richtig draußen, meine ich.“ Ailinas Atem bildete vor ihrem Mund eine weiße Nebelwolke. Felicitas antwortete nicht. Immer wieder sah sie über die Schulter zurück, während sie auf den dunklen Waldrand zugingen.
Sie hinterließen klare Fußabdrücke in dem hohen Schnee. „Jeder kann uns folgen“, schoss es Felicitas durch den Kopf. „Gehen wir nicht unser ganzes Leben lang auf weichem, formbarem Boden und hinterlassen unsere Fußabdrücke? Sind sie nicht das, was uns ausmacht?“
Erst als sie zwischen die hohen Bäume traten, bemerkte Felicitas Mingan. Er war vollständig in seinen langen, schwarzen Umhang gehüllt und nur seine Augen leuchteten unheimlich unter der Kapuze hervor. Sofort erinnerte Felicitas sich an ihre Pflicht, außerhalb des Schlosses unerkannt zu bleiben, und ein schlechtes Gewissen überkam sie.
„Wir hätten die langen Gewänder anziehen sollen“, sagte Ailina, als hätte sie Felicitas' Gedanken gelesen.
Mingan winkte ab. „Keine Sorge. Hierher verirrt sich normalerweise niemand.“
„Außer, man macht einen Spaziergang“, dachte Felicitas bitter und fragte sich wieder, ob Aranck nicht schon längst erraten hatte, was sie war.
„Wir sollten anfangen, bevor wir uns eine Erkältung holen“, meinte Mingan und trat einen Schritt vom Stamm des Baumes weg. Ein kalter Windstoß ließ die kahlen Zweige über ihnen erzittern. Ailina hauchte in ihre Handflächen und sah ihren Lehrer erwartungsvoll an, doch Mingan hatte den Kopf in den Nacken gelegt und starrte zum Himmel empor, wo gerade der Mond hinter einer großen Wolke hervorkam. In dem silbrigen Licht wirkte der Lehrer auf einmal um Jahre gealtert: Seine Wangen waren eingefallen, seine Augen lagen tief in den Höhlen und überall waren Schatten. Felicitas wunderte sich darüber, dass ihr das alles nicht schon früher aufgefallen war.
„Energie ist etwas unendlich Wertvolles“, begann Mingan zu erklären. Seine Stimme klang seltsam rau, was vermutlich an der Kälte lag. „Jedes Lebewesen hat von der Natur eine gewisse Menge Energie erhalten. Genau so viel, wie es zum Leben braucht. Und manche sind dazu bestimmt, länger zu leben, andere kürzer. Ich weiß, dass das grausam klingt. Und vielleicht ist es das auch.“
Noch immer blickte Mingan zum Himmel empor. Felicitas spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam. Auf einmal hatte sie Angst, ihr Lehrer könne sich in einen Wolf verwandeln und den Mond anheulen.
„Aber es ist nicht an uns, das zu ändern“, fuhr Mingan mit seinem Vortrag fort. „Meiner Ansicht nach nicht. Aber Etu war anderer Meinung. Er gab uns nicht nur die Kraft, Materie aus Energie zu formen, sondern auch umgekehrt Energie aus Materie zu gewinnen. Und ihr wisst sicher, dass alles aus Materie besteht: jedes Blatt, jeder Stein, ihr und ich und sogar die Sterne. Aus Gegenständen können wir keine Energie ziehen, aber aus Lebewesen. Es ist noch nicht einmal sonderlich schwer.“
Jetzt sah er Felicitas und Ailina doch an, lange und ernst. „Die Fähigkeit, Lebewesen ihrer Energie zu berauben, nennt man die Anevay-Techniken“, erklärte er weiter. „Es gibt einige Wandler, die diese Techniken beherrschen, Enapay natürlich, aber auch Hakan, Ituma oder Meda.“ Beim Namen der alten Bibliothekarin zuckte Felicitas zusammen. „Früher wurden die Anevay-Techniken erst dann gelehrt, wenn ein Schüler seine Ausbildung abgeschlossen und den heiligen Eid auf unsere Aufgabe geschworen hatte. Und selbst dann durfte jeder selbst entscheiden, ob er diese Fähigkeiten überhaupt lernen wollte. Aber die Zeiten haben sich geändert. Jetzt wird schon längst keine Wahl mehr gelassen.“ Er streckte eine Hand aus und strich über den kalten, glatten Stamm des Baumes. „Ich will ehrlich zu euch sein, auch wenn Enapay das nicht befürworten würde: Ihr lernt diese Techniken nicht nur, um euch zu schützen. Ihr lernt sie auch, um zu töten.“
„Ich möchte niemals töten“, flüsterte Ailina kaum hörbar.
„Zum Töten kann dich niemand zwingen, aber manchmal führt kein Weg daran vorbei.“ Mingan klang traurig, als er das sagte, und uralt.
„Sie haben es schon getan, nicht wahr?“, hörte Felicitas sich sagen.
„Ein paarmal.“ Mingan kniff die Augen zusammen, als würde er irgendeinen fernen, für Ailina und Felicitas unsichtbaren Punkt fixieren. „Aber das ist jetzt nicht von Bedeutung.“ Er räusperte sich, als würde ihm das helfen, die lästigen Erinnerungen abzuschütteln. „Die Anevay-Techniken“, wiederholte er, offenbar um sich selbst daran zu erinnern, wo er stehen geblieben war. „Wie gesagt: Jedes Lebewesen besitzt Energie. Sie fließt durch seinen Körper wie Blut, vorangetrieben von einem unsichtbaren Herzen. Wenn ihr euch darauf konzentriert, könnt ihr sie spüren.“
„Die Energie?“, fragte Felicitas verwirrt.
„Genau. Kommt her und legt eure Hand auf den Baumstamm.“
Ailina und Felicitas taten, wie ihnen geheißen.
„Und jetzt schließt die Augen und konzentriert euch. So, wie ihr es schon unzählige Male zuvor gemacht habt. Doch dieses Mal versucht ihr nicht, die Gefühle eines anderen Menschen zu erspüren oder eure eigene Energie, sondern die Energie des Baumes. Aber ihr müsst aufpassen: Wenn ihr es einmal geschafft habt, mit der Natur um euch herum zu verschmelzen, kann es sein, dass ihr euch in ihren Weiten verliert! Sollte es euch also wirklich gelingen, die Grenzen eures eigenen Bewusstseins zu überschreiten, müsst ihr umgehend zurückkehren!“
Felicitas Finger waren inzwischen so kalt, dass sie den glatten Stamm gar nicht mehr fühlen konnte. Trotzdem schloss sie die Augen und bemühte sich um Konzentration. Sie zwang ihren Atem in einen bestimmten Rhythmus, versuchte, alles um sich herum auszublenden, außer diesem Baum. Doch plötzlich schob sich Aranck vor ihr inneres Auge. Aranck, wie er ihre Tasse gehalten und verkündet hatte, er sähe darin einen Baum. Aranck, wie er ihr hinterhergerufen hatte, er wolle sie noch einmal treffen. Verzweifelt versuchte sie, diese Gedanken zu verdrängen und sich ganz auf ihre Aufgabe zu konzentrieren.
Obwohl sie sich sehr bemühte, wollte es ihr in dieser Nacht nicht gelingen und auch nicht in der nächsten.
Es war bereits weit nach Mittag, als Felicitas leise aufstand, sich umzog und in ihre Stiefel schlüpfte. Wie immer gelang es ihr, ungesehen bis zu der kleinen Hintertür und dann in den Wald zu gelangen. Zu ihrer eigenen Überraschung war es für sie kein Problem, die kleine Lichtung wiederzufinden, auf der sie sich vor drei Tagen mit Aranck getroffen hatte. Sie sah den Jungen schon von Weitem. Mit seinen schwarzen Haaren und einer olivfarbenen Jacke, die ihr noch nie zuvor aufgefallen war, stand er in der Mitte der Lichtung und blickte ihr entgegen.
„Schön, dass du gekommen bist“, sagte er, als sie zwischen den Bäumen hervortrat.