Die Chroniken der Wandler. Laura Schmolke
Mingan auf dem Rücken des Nanook Dyamis saß, warf sie noch einen letzten Blick auf die kleine Hütte. Die Fenster wirkten wie leere, schwarze Löcher, die alles um sie herum verschlangen. „Es tut mir leid, Aranck“, dachte sie und wunderte sich über das starke Gefühl, das sich in ihr regte.
Während der Nanook Dyami Anlauf nahm, seine großen Adlerschwingen ausbreitete und abhob, glaubte Felicitas, hinter einem der Fenster Arancks blasses Gesicht zu erkennen.
*
*
Das Band der Gefühle
Sie kommt zurück. Warum? Sie ist so unwissend, sie hat noch eine Wahl. Ich weiß, dass ich mich eigentlich freuen sollte. Aber sie tut mir leid.
Lautlos setzte der Nanook Dyami im hohen Gras neben dem klaren, blauen See auf. „Siehst du die Schule?“, wollte Mingan wissen.
„Natürlich.“ Felicitas' Antwort klang schärfer als beabsichtigt. „Ich bin schließlich nicht blind.“
Das kleine Schloss erhob sich direkt vor ihnen. Mit seinen schmutzigen, braunen Mauern, von denen bereits der Putz abbröckelte, und dem dunkelgrünen Moos wirkte es baufällig und wenig einladend.
„Danke.“ Mingan neigte den Kopf vor seinem Nanook Dyami.
„Es war mir eine Ehre.“ Der Wolf erwiderte die höfliche Geste, blinzelte Felicitas einmal freundlich zu, drehte sich dann um und trottete, die riesigen Adlerschwingen dicht an den grauen Körper gepresst, in den Wald.
„Was haben Sie den anderen erzählt, wenn sie gefragt haben, wo ich bin?“, wollte Felicitas von Mingan wissen, während sie vorneweg um den See herum und auf das Schlosstor zuging.
„Dass du dich nicht wohlfühlst und im Bett geblieben bist.“ Er schwieg kurz. „Ich habe gesehen, wie du weggelaufen bist“, erklärte er schließlich leise.
Felicitas antwortete nicht, weil sie nicht wusste, was sie darauf sagen sollte. Sie beobachtete nur, wie die Sonne, die hellgelb und wässrig über den Horizont spähte, das Wasser des Sees in den verschiedensten Farben schimmern ließ.
„Nicht da entlang.“ Mingans Stimme ließ sie anhalten.
„Wo lang dann?“
„Wir gehen hinten herum, damit wir nicht so leicht gesehen werden können. An der Rückseite des Schlosses gibt es eine kleine Tür, die ebenfalls ins Innere führt. Halte dich im Schatten der Bäume.“
Felicitas überließ ihrem Lehrer die Führung, als sie nah am Waldrand um das Schloss herumgingen. „Es ist ein gutes Zeichen, dass du die Schule siehst“, sagte Mingan auf einmal. Er ließ Felicitas gar keine Zeit, auf seine merkwürdige Bemerkung zu reagieren, da er bereits fortfuhr: „Du weißt sicher, dass das Schloss von einem Bannkreis umgeben ist, der von Enapay aufrechterhalten wird. Er macht es Menschen – oder Wandlern – die die Schule nicht wirklich finden wollen, unmöglich, sie zu sehen.“
Sie betraten das Schloss durch eine kleine Hintertür und Felicitas fand sich in einem Teil der Schule wieder, den sie noch nie betreten hatte. Mingan führte sie durch schmale, verwinkelte Korridore bis kurz vor ihr Zimmer, wo er sich dann mit knappen Worten von ihr verabschiedete. Felicitas überlegte noch, ob sie sich bei ihm für seine Mühen bedanken sollte, als er ihr bereits den Rücken zuwandte und durch die langen Gänge verschwand.
So plötzlich allein gelassen wusste Felicitas nicht so recht, was sie tun sollte. Sie hatte Angst davor, ihr vertrautes Zimmer zu betreten und Ailina erklären zu müssen, wo sie gewesen war. Aber sie konnte unmöglich hier draußen stehen bleiben oder ziellos im Schloss umherirren. Außerdem, so schwor sie sich, wollte sie nie wieder auch nur in die Nähe der Bibliothek gehen.
So stand sie eine ganze Weile vor der hölzernen Tür, die in Ailinas und ihr Zimmer führte, und traute sich nicht, sie zu öffnen. Dabei kam ihr der für diesen Moment wohl abwegigste Gedanke überhaupt: dass sie nämlich immer noch keine Namensschilder an das blanke, braune Holz geklebt hatten, wie Jessy es von ihnen verlangt hatte.
Als sie sich schließlich überwand, die Tür zu öffnen und einzutreten, sah Ailina sofort auf. Sie saß auf ihrem Bett und war anscheinend gerade dabei gewesen, in einem dicken Buch zu blättern. „Hallo“, sagte sie langsam.
„Hi.“ Felicitas traute sich nicht, ihrer Freundin in die Augen zu sehen, während sie zu ihrem Bett hinüberging und ihren Schlafanzug unter der Decke hervorzog.
„Bleibst du jetzt hier?“, wollte Ailina leise wissen.
„Ja.“ Felicitas nickte.
Dann sagte keines der beiden Mädchen ein Wort mehr. Selbst nachdem Felicitas sich umgezogen hatte und in ihr Bett gekrochen war, lastete das schwere Schweigen noch auf ihnen. Ailina starrte auf die Seite des Buches, die sie gerade aufgeschlagen hatte, schien sie aber gar nicht wirklich zu sehen.
In Felicitas regte sich ein schlechtes Gewissen, als sie daran dachte, wie bereitwillig ihre Freundin ihr von dem Unfall und dem Tod ihrer Eltern erzählt hatte. Und sie lag jetzt einfach nur da und schwieg, obwohl sie doch wusste, dass Ailina gerne wissen würde, was los war.
„Ich war draußen“, erklärte Felicitas schließlich leise. „Im Wald.“
„Ich weiß“, murmelte Ailina. „Mingan hat es mir erzählt.“ Wieder war es kurz still im Zimmer. „Wieso bist du weggelaufen?“
„Ich ...“ Felicitas brach ab und starrte auf ihre weiße Bettdecke. Sie schuldete Ailina die Wahrheit, aber was, wenn sie ihre Freundin dadurch in Gefahr brachte?
„Du musst es mir nicht sagen.“ Ailina schien zu merken, wie schwer Felicitas sich tat.
„Doch ...“ Felicitas holte einmal tief Luft und begann dann zu erzählen. Sie berichtete von ihren seltsamen Träumen, in denen Eva vorgekommen war und versucht hatte, ihr etwas mitzuteilen. Von dem schwarzen Buch, das sie durch Zufall entdeckt und dann teilweise gelesen hatte. Von Medas Spiel. Von Aranck und schließlich von Mingans Auftauchen. Und mit jedem ausgesprochenen Wort schien es ihr, als fiele eine tonnenschwere Last von ihren Schultern.
Ailina hörte schweigend zu und unterbrach sie nicht ein einziges Mal. Als Felicitas schließlich geendet hatte, klappte Ailina das Buch zu, das die ganze Zeit über offen auf ihrem Schoß gelegen hatte, und sah Felicitas an. „Es ist schön, dass du wieder da bist. Ich habe dich vermisst“, gestand sie.
Felicitas lächelte und merkte zu ihrer eigenen Überraschung, dass ihr Tränen in den Augen standen. „Es tut mir leid.“
„Das muss es nicht.“ Ailina schwieg kurz und spielte gedankenverloren mit dem bronzefarbenen Anhänger ihrer Kette. „Bist du dir sicher, dass deine Träume manipuliert waren? Ich meine, was, wenn sie ganz normale, ursprüngliche Träume waren und du ...“
„Ich bin mir sicher“, unterbrach Felicitas sie. „Auch wenn ich dir nicht genau erklären kann, wieso. Verstehst du ... normalerweise sind Träume doch irgendwie vertraut ... die Umgebung, der Geruch, irgendetwas!“ Sie suchte verzweifelt nach den richtigen Worten. „Richtige Träume setzen sich doch zusammen aus Dingen, die man bereits erlebt hat, oder aus Wünschen oder ... aus irgendetwas Persönlichem halt, aber an den Träumen von Eva war nichts Persönliches. Sie haben sich irgendwie falsch angefühlt ... fremd. Verstehst du?“
„Nein“, seufzte Ailina. „Aber ich glaube, ich weiß ungefähr, was du sagen willst.“ Sie ließ den Anhänger ihrer Kette vor ihrer Brust kreisen. „Und das Buch? Ich meine, bist du dir sicher, dass Meda es geschrieben hat?“
„Was soll das hier werden? Ein Verhör?“ Es gelang Felicitas nicht, den scharfen Unterton aus ihrer Stimme herauszuhalten.
„Nein, nein, natürlich nicht, tut mir leid. Ich wollte nur ... ich will nur begreifen, was hier vor sich geht.“