Die Chroniken der Wandler. Laura Schmolke
sich in den zweiten Sessel.
Sie schwiegen beide. Das Knistern des Feuers und das Rauschen des Windes, das von draußen hereindrang, waren die einzigen Geräusche.
„Lebst du hier wirklich ganz alleine?“, wollte Felicitas schließlich wissen.
„Ja ...“ Aranck zögerte kurz. „Aber noch nicht so lange.“
Felicitas hätte gerne nachgefragt, wieso er sich dafür entschieden hatte, so abgeschieden zu leben. Da war so viel, was sie von diesem Jungen wissen wollte, und zugleich war ihr klar, dass sie ihn nach dem morgigen Tag vermutlich nie wiedersehen würde. Sie konnte immer noch nicht richtig glauben, dass sie weggelaufen war. Das Schloss, die Wandler, ihre Fähigkeiten, alles hinter sich gelassen hatte. Und jetzt? „Hilfst du mir morgen, in das nächste Dorf zu kommen?“, fragte sie leise.
Aranck nickte. „Natürlich.“
„Danke.“ Bei dem Gedanken daran, Sandra wiederzusehen, wurde ihr ganz warm ums Herz. Aber wie würde sie ihrer kleinen Schwester erklären, wo sie gewesen war? Wozu sie jetzt in der Lage war? Nur für einen ganz kurzen Augenblick flackerte plötzlich ein Gedanke in ihr auf und sie schloss die Augen. Konzentrierte sich auf den Jungen neben ihr, auf seine Gefühle. Sie wollte nur wissen, ob er wirklich so freundlich und hilfsbereit war, wie er tat. Suchte nach negativen Schwingungen, nach irgendwelchen anderen Gefühlen, die er vor ihr verbarg.
Unwillkürlich musste sie an Amitola denken. Daran, wie die Lehrerin ihnen beigebracht hatte, die Gefühle anderer, auch über größere Distanzen hinweg, wahrzunehmen, wie sie ihnen gezeigt hatte, fremde Schutzschilde zu durchbrechen. Doch bei Aranck war das gar nicht nötig. In der Dunkelheit, die Felicitas umgab, lagen seine Gefühle vollkommen offen, ungeschützt. Wie kleine, verschiedenfarbige Edelsteine funkelten sie, wunderschön in hellen, gelben und orangefarbenen Tönen.
„Ist alles okay?“ Arancks Stimme klang wie aus weiter Ferne.
Schnell öffnete sie die Augen wieder und sah den Jungen an. „Ja, natürlich.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln.
Aranck hatte den Kopf leicht schräg gelegt und musterte sie mit einer Mischung aus Misstrauen und Neugier.
Felicitas fiel auf, wie dunkel seine Augen waren, fast schwarz. Und so tief, dass sie drohte, darin zu versinken. Aranck senkte den Blick als Erster und fixierte die weinrote Armlehne seines Sessels.
Schließlich stand er auf, hob den Kessel vom Haken und schüttete das dampfende Wasser in zwei kleine Tonbecher. Dann öffnete er eine der Schubladen in der Kommode und holte einen kleinen, schwarzen Beutel daraus hervor. Schweigend sah Felicitas dabei zu, wie er konzentriert einen Teil seines Inhalts gleichmäßig auf die Becher verteilte.
„Was ist das?“, wollte sie wissen.
Aranck lächelte, während er das Säckchen wieder sorgfältig verstaute. „Tee? Wasser mit Geschmack?“ Jetzt drehte er sich doch zu Felicitas um und setzte eine nachdenkliche Miene auf. „Hast du dich schon mal gefragt, wie der Geschmack in das Wasser kommt?“, fragte er ernst.
Felicitas spürte, wie sie rot wurde. „Also waren das Kräuter?“
Aranck nickte und holte aus einer weiteren Schublade zwei Löffel. Er kam wieder zum Feuer hinüber und reichte Felicitas einen Becher und einen Löffel. Obwohl sie im einundzwanzigsten Jahrhundert lebten, verwunderte Felicitas der Anblick der silbernen Metalllöffel. Sie schienen so gar nicht hierher zu passen. Aranck schwieg, rührte gedankenverloren in seiner Tasse und nippte ab und zu daran. Da Felicitas nicht wusste, was sie sagen sollte, schwieg sie ebenfalls.
„Kannst du die Zukunft aus Teeblättern lesen?“, fragte Aranck auf einmal.
Einen kurzen Augenblick lang war Felicitas zu überrascht, um zu antworten. „Äh, nein“, brachte sie schließlich hervor. „Du?“
Aranck zuckte mit den Schultern und starrte in seinen Becher. „Manchmal.“
„Na, dann schieß los!“
„Was?“
„Mit deiner Prophezeiung! Was sagen deine Teeblätter?“
Aranck drehte seinen Becher ein paar Mal in der Hand. „Ich sehe ...“, sagte er gedehnt mit verstellter, tiefer Stimme, „ich sehe ...“
„Jetzt sag schon!“
„Einen Baum.“
„Und? Was bedeutet das?“
„Keine Ahnung.“
Felicitas musste lachen. „Zeig mal her!“
Widerstandslos reichte Aranck ihr seinen Becher und Felicitas sah hinein, drehte und wendete ihn in ihrer Hand, starrte auf die willkürlich angeordneten Teeblätter darin.
„Also, ich erkenne nichts“, verkündete sie schließlich.
„Natürlich nicht. Das können nur Profis.“ Aranck grinste.
„Klar“, meinte Felicitas sarkastisch und stellte zu ihrem Erschrecken fest, dass sie begann, Aranck zu mögen. Diesen vollkommen fremden Jungen, von dem sie nicht mehr wusste, als dass er ganz allein in einer abgelegenen Hütte mitten im Wald lebte.
Sie schüttelte leicht den Kopf und versuchte sich abzulenken, indem sie an ihrem Tee nippte. Es dauerte nicht lange, bis die wohlige Wärme des Feuers sie einlullte. Ihre Augen wurden schwer und sie gähnte oft, was auch Aranck nicht verborgen blieb.
„Wir sollten schlafen“, meinte er.
Felicitas nickte.
„Du kannst es dir auf der Couch bequem machen. Ich bringe dir noch eine Decke.“
Als er kurz in einem der Nebenzimmer verschwand, stellte Felicitas ihren inzwischen leeren Becher auf dem hölzernen Tisch ab und streckte sich auf dem Sofa aus. Es war ein bisschen zu kurz, sie musste die Beine anwinkeln, aber das war besser, als auf dem harten Waldboden irgendwo draußen in der Dunkelheit zu schlafen. Bald kam Aranck wieder, brachte ihr die versprochene Decke, wünschte ihr eine gute Nacht und verzog sich wieder in einen angrenzenden Raum. Leise schloss er die Tür.
Und dann war Felicitas plötzlich alleine, beobachtete, wie das Feuer immer weiter herunterbrannte und lauschte auf das Heulen des Windes. Trotz ihrer Erschöpfung gelang es ihr nicht, einzuschlafen. Immer wieder dachte sie an Ailina und Jessy und fragte sich, ob ihre beiden Freundinnen sie wohl vermissen würden. Ob sie ihren Schritt verstehen würden. Vermutlich nicht. Sie verstand ihn ja selbst kaum.
Klar war ihr nur, dass Meda sie für irgendein Spiel benutzen wollte – oder es schon längst getan hatte? – von dem sie nichts verstand. Aber sie ahnte, wie weit die Bibliothekarin bereit gewesen wäre, dafür zu gehen. Felicitas drehte sich auf die andere Seite, presste ihren Kopf gegen die Rückenlehne des Sofas und atmete den eigenartigen Duft von Holz, Blättern und Rauch ein.
Sie war weggelaufen. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie versuchte, an Sandra zu denken, an ihre Eltern, an Martina, an all die Menschen, die sie bald wiedersehen würde. Versuchte sich darüber zu freuen, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie wieder ein normales Leben führen könnte.
Aber da war nichts. Kein Gefühl. Keine Freude. Nur Angst und das Bewusstsein, etwas verloren zu haben. Etwas Wertvolles, von dem sie bisher noch nicht einmal gewusst hatte, dass sie es besessen hatte.
Irgendwann glitt Felicitas doch in einen leichten, unruhigen Schlaf.
Mitten in der Nacht schreckte sie hoch. Das Feuer war vollkommen heruntergebrannt, nur einzelne Holzscheite glühten noch rot in der Dunkelheit. Von draußen fiel helles Mondlicht durch die Fenster und ließ Arancks geschnitzte Tiere wie kleine Gespenster wirken. Irgendwo über ihr knackte Holz.
Was hatte sie geweckt?
Sie sah sich in dem dunklen Raum um, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches entdecken. Nach einigen Sekunden entspannte sie sich etwas und bettete ihren Kopf wieder auf die weiche Armlehne des Sofas.