Die Chroniken der Wandler. Laura Schmolke
Die Stimme klang leise, wie aus weiter Ferne.
Sie wusste, dass es unmöglich war, aber im ersten Moment dachte sie, Eva hätte ihren Namen gerufen. Eva, ihre kleine Schwester, die ihr in letzter Zeit so nah schien und doch unerreichbar.
Leise stand Felicitas auf und tappte barfuß über das warme Holz hinüber zum Fenster. Obwohl die Lichtung in helles Mondlicht getaucht war, dauerte es ein wenig, bis sie die beiden Gestalten entdeckte, die beinahe mit den Schatten verschmolzen.
Angst überkam sie, als sie die unförmigen Konturen eines Nanook Dyamis in der Dunkelheit ausmachen konnte und direkt neben ihm eine in einen langen, schwarzen Umhang gehüllte Gestalt.
„Felicitas!“ Wieder hallte die Stimme durch ihren Kopf, lauter jetzt und drängender.
„Nein.“ Felicitas presste die Hände auf die Ohren und trat vom Fenster weg. Sie wollte nicht zurück, wollte ihre Freiheit nicht nach ein paar Stunden schon wieder verlieren.
„Komm raus, bitte. Wir wollen dir nichts tun. Nur mit dir reden.“ Auch dieser Nanook Dyami war wie Misae eindeutig weiblich. Auf einmal hatte seine Stimme allen drängenden Klang verloren und war sanft und weich.
„Ein Trick“, dachte Felicitas, „sie wollen mich zurückbringen.“ Dennoch trat sie wieder ans Fenster. Solange Aranck in der Hütte war, würde der Wandler es nicht wagen, einfach hereinzustürmen und sie mitzunehmen, schließlich musste er sich unauffällig verhalten und durfte nicht riskieren, entdeckt zu werden. Oder? Was würde er tun, wenn sie nicht freiwillig herauskam? Würde er Aranck wehtun, weil er ihr bei ihrer Flucht geholfen hatte?
Die Gestalt in dem schwarzen Umhang löste sich aus dem Schatten und trat in das silbrige Licht des Mondes. Sie sah sich kurz aufmerksam um, bevor sie die Kapuze vom Kopf streifte und das Tuch, das Mund und Nase verdeckte, hinunterzog. Jetzt erkannte Felicitas, dass es sich um Mingan handelte, und Erleichterung durchflutete sie. Sie wusste selbst nicht, wieso, aber von allen ausgebildeten Wandlern an ihrer Schule vertraute sie Mingan am meisten.
„Felicitas, bitte. Wir wollen dich nicht zwingen, mit uns zurückzukommen. Wir wollen nur mit dir reden!“, erklärte der Nanook Dyami noch einmal, während Mingan sie durch die staubige Scheibe hindurch ansah. In seinem Ausdruck lagen weder Wut noch Vorwurf, nur eine unausgesprochene Bitte.
Der Boden knarzte unter ihren nackten Füßen, als Felicitas zur Tür huschte. Sie warf noch einen kurzen Blick in die Richtung, in der das Zimmer lag, in dem Aranck schlief, doch alles war still.
Kühler Wind zerzauste ihr das Haar, als sie hinaus auf die Lichtung trat und die Tür zur Hütte leise hinter sich schloss. Mingan stand wieder im Schatten, direkt neben seinem Nanook Dyami, und hatte die Kapuze aufgesetzt.
„Danke, dass du gekommen bist“, sagte er leise.
Felicitas nickte nur, rührte sich jedoch nicht von der Stelle. Mingan kam auf sie zu, das vom Tau feuchte Gras dämpfte das Geräusch seiner Schritte.
Felicitas warf einen schnellen Blick in den Himmel. Wie spät es wohl sein mochte? Die ersten Sterne begannen bereits zu verblassen und im Osten wich das samtene Schwarz der Nacht einem helleren Blau.
„Wieso sind Sie gekommen?“, fragte Felicitas.
Mingan antwortete nicht sofort. „Ich will dich nicht zwingen, mit mir zurückzukommen“, wiederholte er die Worte des Nanook Dyami. „Aber ich will dich darum bitten.“ Der Blick seiner hellen, blauen Augen bohrte sich in die von Felicitas. „Du weißt nicht, in welche Gefahr du dich gebracht hast, als du die Mauern der Schule hinter dir gelassen hast.“
Ein Lächeln spielte um Felicitas Lippen. „Ich habe keine Angst.“
„Ich weiß“, sagte Mingan langsam. „Du möchtest zurück zu deiner Familie und das verstehe ich.“ Sein Blick verlor an Intensität, wurde weicher. „Ich weiß, dass ich dich nicht zwingen kann, zurückzukehren. Aber ich hatte gehofft, dass du es trotzdem tun würdest.“
Felicitas spürte ein seltsames Gefühl in sich. Eine Mischung aus Schmerz, Freude und Verzweiflung. Er war zu ihr gekommen. Hatte sie gesucht. Und ließ ihr doch ihre Entscheidung. Jäh wurde ihr klar, dass Mingan nichts wusste. Weder von Medas Spiel, noch von der Rolle, die sie, Felicitas, darin zugedacht bekommen hatte. Sie wusste nicht, woher sie diese Sicherheit nahm, aber im Moment war es das Einzige, was sie mit Bestimmtheit sagen konnte.
„Wieso sollte ich das tun?“, fragte sie leise.
Wieder antwortete Mingan nicht sofort. „Weil du es willst.“ Seine Stimme war ruhig und ohne jeglichen Ausdruck. „Deine Gaben sind ein Teil von dir, Felicitas. Natürlich kannst du sie vergraben, tief in deinem Inneren. Aber du kannst sie auch nutzen, zum Guten. Kannst den Menschen damit helfen.“
Die Welt, wie ihr sie kanntet, existiert für euch nicht mehr.
Felicitas wusste, dass sie diese Worte schon einmal gehört hatte, konnte sich aber nicht mehr daran erinnern, wo und wann das gewesen war. „Sie wissen es nicht, oder?“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
„Was weiß ich nicht?“
Felicitas antwortete nicht. Sie merkte, dass sie sich ihrer Entscheidung, nach Hause zu ihrer Schwester und ihren Eltern zurückzukehren, auf einmal gar nicht mehr so sicher war. Das ärgerte sie. War sie wirklich so leicht umzustimmen? So leicht zu manipulieren?
„Doch, ich habe Angst.“ Sie sprach die Worte laut aus, bevor sie sich selbst bewusst wurde, dass sie wahr waren. „Vor meinen Fähigkeiten ... vor mir selbst. Davor, dass ich ... benutzt werde für Dinge, die ich eigentlich gar nicht möchte. Es wäre so viel leichter, einfach in mein altes Leben zurückzukehren.“
„Ja“, stimmte Mingan ihr zu. „Aber wärst du dann glücklich?“
Felicitas dachte an Sandra. An ihre Eltern. Und daran, dass sie eine Lüge leben müsste. Sie war nicht mehr das Mädchen von damals, sie war eine Wandlerin. Ein Mensch mit überirdischen Fähigkeiten. „Nein“, hauchte Felicitas.
„Du weißt, dass ich dir helfen werde, so gut ich kann“, sagte Mingan nach längerem Schweigen. „Ich kann dir beibringen, mit deinen Gaben umzugehen, aber nur du allein entscheidest, wie du sie anwenden willst. Und das ist auch gut so.“
Felicitas nickte.
„Vielleicht habe ich durch Meda ein falsches Bild von den Wandlern bekommen?“, dachte sie. „Vielleicht gibt es gar nicht so viele Geheimnisse, vielleicht spiele ich gar keine so große Rolle?“ Sie war sich sicher, dass Mingan die Wahrheit sagte, dass er nichts von Medas Spiel wusste, dass er ihr wirklich nur helfen wollte. Er war ihretwegen hier. „Vielleicht geht es wirklich nur darum, die Menschen in eine bessere Zukunft zu führen?“, dachte sie und sagte an Mingan gerichtet: „Was wird Enapay mit mir machen, wenn er erfährt, dass ich weggelaufen bin?“
Mingan schüttelte kaum merklich den Kopf. „Er wird es nicht erfahren.“
„Danke.“ Sie sagte es so leise, dass sie es selbst kaum hörte. In ihren Gedanken sprach sie zu ihrer Schwester: „Es tut mir leid, Sandra. Aber das hier ist meine Aufgabe. Mein Schicksal, wenn es so etwas gibt. Ich kann mit meinen Fähigkeiten Gutes tun, und das möchte ich versuchen. Sie sind nicht alle böse, weißt du. Vielleicht ist noch nicht einmal Meda böse. Vielleicht ist sie nur verrückt und weiß nicht mehr, was sie tut. Aber ich bin mir jetzt sicher, dass die anderen nichts von ihren Versuchen, mich zu manipulieren und für ihre Zwecke zu gebrauchen, wussten. Ich kann es ihnen auch nicht sagen, schließlich hätte ich eigentlich gar nicht in dem Buch lesen dürfen. Und was würde Meda mit mir machen, wenn sie erfahren würde, dass ich ihre Geheimnisse ausgeplaudert habe?“
„Kann man sich vor Angriffen auf Ebene Drei schützen? Vor dem Versuch eines anderen, den eigenen Traum zu manipulieren?“, fragte Felicitas.
„Man kann sich vor fast allem schützen.“
„Bringen Sie es mir bei, wenn wir wieder in der Schule sind?“
Mingan