Die Chroniken der Wandler. Laura Schmolke
Natürlich sah Felicitas sie. Als sie sich ebenfalls ein wenig vorbeugte, fuhr ihr ein kühler Windhauch ins Gesicht. Plötzlich fragte sie sich, welchen Monat sie wohl hatten.
„Wusstest du, dass wir, immer wenn wir in den Himmel schauen, in die Vergangenheit sehen?“, fragte Jessy. Wie immer wartete sie gar nicht erst auf eine Antwort. „Das Licht von jedem einzelnen dieser Sterne braucht so lange zu uns, dass wir das sehen, was dort vor mehreren Jahren oder sogar Jahrzehnten, Jahrhunderten, Jahrtausenden passiert ist.“ Ihre Augen leuchteten unheimlich in der Dunkelheit. „Das musst du dir mal vorstellen“, murmelte sie ehrfurchtsvoll. „So weite Entfernungen ... So viel Zeit ...“
Einige Minuten lang blieben sie so am Fenster stehen, beide schweigend in ihre Gedanken vertieft, und betrachteten die Sterne, die vereinzelt zwischen den Wolken hindurchblinzelten. Dann trat Jessy mehrere Schritte zurück und lehnte sich gegen die Wand.
„Wie spät ist es?“, wollte sie wissen.
„Keine Ahnung.“ Felicitas schloss das Fenster. „Wir sollten mal runterschauen.“
„Okay.“
Nach dem zusätzlichen Unterricht bei Mingan fühlte Felicitas sich wieder total erschöpft. Sie war erleichtert, als sie sich endlich in ihr Bett fallen lassen konnte.
Ailina öffnete das Fenster und blieb dort eine Weile stehen. Die Sonne war schon seit einiger Zeit aufgegangen, jetzt ließ sie milchige, gelbe Flecken auf dem Fußboden tanzen.
Eine ganze Weile lag Felicitas wach und dachte an die Erinnerungen ihrer Freundin, deren Zeuge sie gestern – vermutlich ungewollt – geworden war. Sie drehte sich um, sodass sie auf dem Bauch lag und Ailina betrachten konnte. Wieder fragte sie sich, wer ihre Zimmergenossin überhaupt war. Oder besser gesagt: wer sie gewesen war, bevor sie hierher gebracht worden war. Oder war sie freiwillig gekommen? „Ailina?“, fragte sie leise.
„Hm?“ Ailina drehte sich nicht zu ihr um.
Felicitas wollte sie so vieles fragen, doch sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte.
„Die Erinnerungen“, sagte Ailina leise. „Du willst wissen, was passiert ist.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
„Ja.“ Stille.
„Es ist ein halbes Jahr her“, begann Ailina schließlich leise, „besser gesagt: sechs Monate und zweiundzwanzig Tage.“ Ihre Stimme zitterte, doch sie sprach schnell, ohne Felicitas anzusehen. „Es war ein ganz normaler Tag ... dachte ich. Die Sonne hat geschienen.“ Ailina lächelte traurig. „Wir haben die gleiche CD angehört, wie immer, wenn wir mit dem Auto unterwegs waren. Dad hat vor allem das erste Lied geliebt, wir haben es uns immer wieder angehört, ich kannte es schon längst auswendig.“
Reglos stand sie da und starrte aus dem Fenster. Als sie leise zu singen begann, erkannte Felicitas das Lied. Es war dasselbe, das Ailina immer beim Zeichnen anhörte.
„Hurt“, murmelte Felicitas, die sich plötzlich an den Namen des Liedes erinnerte, „von Christina Aguilera.“
Ailina nickte. „Ziemlich passend, was?“, fragte sie traurig. „Wir wollten an den See fahren. Dort wandern gehen und vielleicht ein Eis essen. Dann kam das gelbe Auto. Es kam von links, Dad hatte Vorfahrt. Ich erinnere mich daran, dass er geschrien hat, bevor ... bevor ...“ Ihre Stimme versagte.
„Du ... du musst nicht weiterreden, wenn du nicht willst!“ Felicitas fühlte sich plötzlich hilflos. Sie stand auf und wollte ihre Freundin in den Arm nehmen, traute sich dann aber nicht.
„Überall waren Flammen“, erzählte Ailina weiter, „Leute haben geschrien, die Stimmen kamen von allen Seiten. Ich wollte weglaufen, Hilfe holen, sehen, ob es meinen Eltern gut geht. Aber ich konnte mich nicht bewegen. Mein Bein war eingeklemmt und ich kam nicht aus dem Auto. Es ist ein Wunder, dass ich überlebt habe.“ Sie schwieg kurz, bevor sie fortfuhr. „Als ich wieder aufgewacht bin, lag ich im Krankenhaus. Sie haben mir gesagt, es wären zwei Wochen vergangen. Tobi war dort. Er hat gesagt, dass alles gut werden würde, aber ich habe ihm nicht geglaubt. Mein Bein hat wehgetan. Ich konnte nicht mehr laufen. Es hat mehrere Monate gedauert, bis ich es wieder gelernt hatte. Aber die Narbe ist immer noch dort. Ich werde nie wieder so rennen können wie früher. Oder springen. Oder mit dem Schwert kämpfen.
Es hat fast vier Monate gedauert, bis ich nach Hause durfte. Dort war alles unverändert. Das Bett im Schlafzimmer war ungemacht, im Wohnzimmer herrschte das übliche Chaos, als wären sie nur kurz einkaufen und würden jeden Moment wiederkommen. Aber sie sind nicht wiedergekommen.“
Jetzt begann Ailina doch zu weinen und Felicitas legte die Arme um sie.
***
Schon seit einer ganzen Weile stand der schwarzhaarige Mann im Eingang der Höhle und starrte hinaus in den Wald. Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch die dichten Baumkronen und sahen unheimlich aus, wie sie sich im morgendlichen Nebel verloren.
„Und wenn es nicht funktioniert, Meister?“ Die Frau trat hinter ihm aus dem Schatten. Ihre langen, schwarzen Haare fielen ihr offen über den Rücken und ihr grünes Kleid ließ jede ihrer Bewegungen geschmeidig wirken. Es verlieh ihr etwas Raubtierhaftes. Wieder sah Hakan für einen Sekundenbruchteil eine ganz andere Frau vor sich, bevor er entschlossen den Kopf schüttelte.
„Es wird funktionieren.“
„Dann sagt mir, warum es das nicht schon längst getan hat!“, fauchte die Frau.
Zorn durchzuckte Hakan. Zorn darüber, dass die Seherin es wagte, so mit ihm zu reden, und - schlimmer noch - dass sie an seinen Plänen zweifelte. „Geduld war noch nie deine Stärke.“ Hakan bemühte sich, all seine Überlegenheit in diese Worte zu legen.
„Und Ihr steckt zu viel Hoffnung in einen Plan, der nie aufgehen wird! Wieso seid Ihr euch so sicher, dass sie Onida ist? Wir brauchen das Buch, Meister, wir brauchen die Chroniken der Wandler, um die Wahrheit herauszufinden!“
Hakan schwieg und ballte die Hände zu Fäusten. Er wusste nicht, wie oft sie dieses Gespräch schon geführt hatten. Wusste nicht, wie oft er ihr schon versucht hatte klarzumachen, dass sie niemals an die Chroniken herankommen würden, solange sie nicht wussten, in wessen Besitz sie sich befand.
Unbeirrt fuhr die Seherin fort: „Die Nitika haben das Buch auf die Erde gebracht und in die Obhut eines Sterblichen gegeben. Wenn wir nicht jetzt versuchen, es in unseren Besitz zu bringen, wann dann? Wenn Muraco es erst einmal in den Händen hält, ist es zu spät!“
Hakan holte mit der rechten Faust aus, doch die Frau duckte sich routiniert unter seinem Schlag hindurch.
„Meine Aufgabe ist es, Euch Ratschläge zu erteilen, und genau das tue ich. Wenn Ihr nicht auf mich hören wollt, ist das Euer Problem, nicht meines.“ Sie drehte sich schwungvoll auf dem Absatz herum und verschwand im Inneren der Höhle.
Hakan hob den Blick gen Himmel, betrachtete die Sterne, die ihn zu beobachten schienen, aus weit aufgerissenen, leuchtenden Augen und murmelte: „Oh Sahale, bitte steh mir bei.“
***
„Felicitas!“
Sie rannte durch den Wald, wurde schneller und schneller. Die Bäume um sie herum schienen sich zu bewegen, verschoben sich und versperrten ihr den Weg.
„Felicitas!“
Die Stimme hallte durch den Wald, schien aus allen Richtungen zu kommen. Doch Felicitas blieb nicht stehen. Der Boden bebte, ließ sie stolpern, aber sie richtete sich auf und lief weiter.
Plötzlich lichteten sich die Bäume und sie trat hinaus auf eine kleine Wiese. In deren Mitte befand sich ein kleiner, klarer See, in dem sich die Sterne und der volle Mond spiegelten. Sie wusste, dass sie diesen Ort schon einmal besucht hatte, in einem anderen Traum. Doch damals war sie hier Etu begegnet, dem goldenen Drachen. Jetzt kniete das Mädchen in dem weißen Kleid am Ufer und sah Felicitas an aus ihren traurigen, braunen Augen.
Felicitas