Die Chroniken der Wandler. Laura Schmolke
sie nicht stören wollen. Außerdem machte es ihr nichts aus, alleine zu sein. Im Moment zumindest tat ihr die Stille um sie herum gut.
Sie warf einen Blick auf das Blatt Papier und den Stift, die sie mitgenommen hatte. Ituma verlangte von ihnen einen dreiseitigen Aufsatz zum Thema Die Grenzen der Freiheit, und das, obwohl sie die letzten Unterrichtsstunden nur über das Höhlengleichnis und den Begriff Wirklichkeit gesprochen hatten.
Aber Felicitas hatte keine Lust, sich jetzt noch Gedanken zu irgendeinem philosophischen Thema zu machen. Ihr Kopf fühlte sich auch so schon viel zu voll an. Die Spiele gestern, Medas rätselhafte Prophezeiung, das Mädchen in ihrem Traum ...
Plötzlich überkam sie Sehnsucht nach einem Menschen, dem sie vertraute, mit dem sie über all das reden konnte. Sie stand auf und öffnete das Fenster, lehnte sich weit nach draußen. Als Erstes konnte sie die Lichter in den gegenüberliegenden Fenstern ausmachen. Dann sah sie in den Himmel. Ihre Augen brauchten eine Weile, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, doch schließlich konnte sie Wolken erkennen, die sich vor dem Mond zusammengeballt hatten und nur selten hier oder da einen einzelnen Stern hindurchblinzeln ließen. Die Luft war warm und schwer und schien vor Spannung zu knistern. Ein Gewitter bahnte sich an.
„Sandra, wo bist du?“, flüsterte Felicitas hinaus in die Nacht. „Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Ich habe so viel Angst davor, irgendwann kämpfen zu müssen, oder ... oder ...“ Sie hielt inne und dachte darüber nach, wovor sie eigentlich Angst hatte. „Ich habe Angst vor dem, was kommt“, murmelte sie dann, „weil ich keine Ahnung habe, was es sein wird.“
Sie schloss die Augen und sah ihre Schwester vor sich. Sandra, die unbeschwerte, tollpatschige Sandra, die immer den Augenblick gelebt und sich noch nie Gedanken über ein Morgen gemacht hatte.
„Hat mein Verschwinden sie verändert? Vermisst sie mich?“ Angestrengt spähte Felicitas in die Dunkelheit, als wäre irgendwo dort draußen ihre Schwester, die sich ihr zeigen würde, wenn sie sich nur genug anstrengte, sie zu sehen.
Irgendwo in der Ferne grollte Donner.
*
Ailinas Erinnerungen
So lange war ich auf der Flucht, habe versucht, vor etwas wegzulaufen, vor dem man nicht weglaufen kann. Etwas, das einen verfolgt wie der eigene Schatten, sich immer wieder in das Bewusstsein einschleicht und es verändert. Wenn ich könnte, würde ich alles vergessen. Aber die Erinnerungen sind ein Teil von mir, den ich nicht loswerden kann, der für immer an meinem Geist haftet, quälend und schwer.
„Ich habe gehofft, dass du hier bist“, sagte plötzlich jemand hinter ihr. Felicitas fuhr herum und sah Jessy, die in der Tür stand.
„Und wieso?“, fragte sie.
Jessy schloss die Tür hinter sich und ließ sich in eines der Sitzkissen plumpsen. „Eigentlich wollte ich dich nur fragen, ob ich deinen Aufsatz abschreiben darf“, erklärte sie leichthin. „Ich werde ihn natürlich ein bisschen ändern und so, aber mir fällt einfach nichts ein.“
„Tut mir leid, ich habe ihn noch nicht geschrieben.“ Felicitas ließ sich neben Jessy nieder und zeigte ihr als Beweis ihr leeres Blatt.
„Oh“, Jessy klang enttäuscht, „dann muss ich mir wohl jemand anderen suchen.“ Doch sie machte keine Anstalten, aufzustehen.
Das grelle Licht der einzigen Glühbirne ließ tiefe Schatten in ihrem Gesicht entstehen und verlieh ihr etwas Unnatürliches.
Draußen begann es zu regnen. „Das ist das erste Mal seit mindestens fünf Wochen“, erklärte Jessy.
„Was?“
„Dass es regnet.“ Jessy stand auf und stellte sich ans Fenster. Ein Blitz zuckte über den Himmel und gleich darauf folgte ein Donnergrollen. Der Regen wurde stärker, peitschte gegen die Hauswand. Doch hier drinnen war es hell und warm.
Unwillkürlich drängte sich ein anderes Bild vor Felicitas' inneres Auge, aber sie kämpfte dagegen an. Nicht hier, nicht jetzt. Nicht schon wieder.
Sie stand auf und begann unruhig in dem kleinen, kreisrunden Raum auf und ab zu gehen. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus, nahm sich ihr Blatt Papier und den Stift und versuchte, sich mit ihrem Aufsatz abzulenken.
Felicitas war erleichtert, als es endlich kurz vor sechs war. Sie war fast fertig mit ihrem Aufsatz und Jessy hatte sich schon vor längerer Zeit neben sie gesetzt, abgeschrieben und ab und zu sogar etwas Sinnvolles beigesteuert.
Jetzt lief sie neben Jessy in Richtung des großen Saales und versuchte, dem Geplapper ihrer Freundin zu folgen. Sie lächelte, weil Jessy sie so sehr an Sandra erinnerte.
„Wir wollen nach dem Essen noch im Gemeinschaftsraum Karten spielen, seid ihr dabei?“, fragte July Felicitas und Jessy, als sie sich einen Weg durch die volle Halle gebahnt und sich an den Tisch gesetzt hatten.
„Klar!“ Jessy strahlte. „Wir könnten Schafkopf spielen, das wollte ich schon immer mal lernen! Oder Mau-Mau, oder Palermo, oder ...“
„Ich nicht“, unterbrach Felicitas ihren Redeschwall und tauschte einen schnellen Blick mit Ailina. Zum Glück hakte July nicht weiter nach, denn Felicitas war nicht besonders scharf darauf, ihren Mitschülern von Mingans Angebot zu erzählen.
Während sie sich ihr Brötchen schmierte, fragte sie sich, was der Lehrer wohl mit ihnen vorhatte.
Nach dem Essen blieben Felicitas und Ailina an ihrem Tisch sitzen und warteten. Sie sahen zu, wie die Halle sich leerte, bis irgendwann kaum noch Schüler übrig waren. Immer wieder schweifte Felicitas' Blick hinauf zu dem Lehrertisch auf der Suche nach Mingan. Sie entdeckte ihn schließlich etwas abseits, in ein Gespräch mit Enapay vertieft. Verstohlen musterte Felicitas die beiden Männer. Es war schwer zu sagen, welcher von ihnen älter war, doch sie tippte auf Enapay. Beide trugen die gleichen schwarzen Gewänder, die bis hinab zum Boden reichten, und hatten ihr langes, graues Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst. Der einzige Unterschied in ihrem Auftreten bestand in einem goldenen Medaillon, das Enapay um den Hals trug.
Schließlich neigte Mingan leicht den Kopf, drehte sich dann um und kam auf sie zu. Felicitas merkte, dass sie mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte herumgetrommelt hatte, und zog schnell ihre Hand zurück. Doch Ailina schien das gar nicht bemerkt zu haben, sie starrte gedankenverloren auf ihren Teller, auf dem ein einsames halbes Brötchen und eine Scheibe Käse lagen.
„Guten Morgen.“ Mingan verzog die schmalen Lippen zu einem Lächeln, doch seine blauen Augen blieben ernst. „Ich schlage vor, wir gehen in mein Arbeitszimmer, dort sind wir ungestört.“
Der kleine Raum, den Mingan als sein Arbeitszimmer bezeichnete, war wenig größer als ihr Klassenzimmer. Zu einem großen Teil wurde er von einem unförmigen, hölzernen Schreibtisch ausgefüllt, auf dem sich allerhand Papiere, Bücher und rätselhafte Geräte stapelten, die Felicitas noch nie in ihrem Leben gesehen hatte. Es standen noch drei klobige, lederne Sessel in dem Raum, einer hinter dem Schreibtisch und zwei davor, die so groß waren, dass sie das Zimmer noch einmal um einiges kleiner erscheinen ließen. Eine hohe Standuhr, deren Ziffernblatt statt der Zahlen mit seltsamen Symbolen bemalt war, stand in der Ecke und tickte leise vor sich hin.
„Bitte, nehmt Platz.“ Mingan deutete auf die beiden Sessel vor dem Schreibtisch. Felicitas versank fast in den dicken Polstern.
„Ich habe für heute Abend nichts vorbereitet, ich richte mich ganz nach euch“, erklärte Mingan und setzte sich in den dritten Sessel. „Gibt es irgendein Fach, in dem ihr Probleme habt oder das ihr noch einmal besonders üben wollt? Ansonsten wäre ich dafür, dass wir uns noch einmal eingehend mit dem Abwehren von Angriffen auf Ebene Zwei beschäftigen.“
Felicitas warf Ailina einen Hilfe suchenden Blick zu, doch ihre Freundin starrte auf ein Bild, das an der Wand hing. Es zeigte zwei Kreise, einen goldenen und einen silbernen, der von dem goldenen fast verdeckt wurde. Sonne und Mond. „Was bedeutet