Die Chroniken der Wandler. Laura Schmolke

Die Chroniken der Wandler - Laura Schmolke


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In der ersten Stunde hatten sie Kampf bei Mingan.

      Sie hatten Glück, denn ihr Lehrer war noch nicht da, als die beiden etwas zu spät das Klassenzimmer betraten.

      „Wo wart ihr?“, wollte Jessy sofort wissen.

      „In der Bibliothek, wir wollten noch etwas nachschauen“, antwortete Ailina wahrheitsgemäß.

      Jessy öffnete gerade den Mund, um weiter zu fragen, als Mingan den Raum betrat und sich bei den Schülern für seine Verspätung entschuldigte.

      „Ich habe einige von euch gestern beim Tokahe-Spiel beobachtet“, erklärte er dann, „und muss euch ein großes Lob aussprechen. Dafür, dass ihr erst seit einigen Wochen an unserer Schule seid, habt ihr bereits viel gelernt.“

      „Sieht so ein richtiger Kampf aus?“, fragte Christiane mit großen Augen.

      „So ungefähr“, antwortete Mingan, „aber natürlich geht es in einem richtigen Kampf nicht nur darum, seinem Gegner eine Feder von der Kette zu reißen.“

      Es gelang Felicitas noch immer nicht, sich einen richtigen Kampf vorzustellen. Der Gedanke daran, mit ihren Fähigkeiten andere Wandler zu verletzen oder gar zu töten, erschien ihr so fern, so unwirklich. Obwohl sie natürlich wusste, dass ein Teil ihres Unterrichts darauf abzielte.

      Warum? Auf einmal kam ihr das Ganze lächerlich vor. Sie bekamen gesagt, dass sie den Menschen helfen sollten, sich von ihrem gegenseitigen Hass, dem Neid, der Eifersucht zu lösen, um den Weg in eine bessere Zukunft zu finden. Und gleichzeitig sollten sie lernen zu kämpfen, um diese andere Gruppe von Wandlern zu ... ja, zu was? Zu töten? Oder nur daran zu hindern, ihrerseits Menschen umzubringen?

      Felicitas versuchte, sich auf Mingan und den Unterricht zu konzentrieren, doch es gelang ihr nicht. Zu schnell wirbelten die Gedanken in ihrem Kopf durcheinander.

      Die Stunde zog sich in die Länge. Als Mingan endlich erklärte, dass sie für heute fertig seien, wäre Felicitas am liebsten aufgesprungen und zur Tür hinausgerannt. Sie wusste nicht, woher diese Unruhe kam, doch es schien ihr kaum erträglich, noch länger zu sitzen und so zu tun, als würde sie dem Unterricht folgen.

      Doch als sie auf die Tür zusteuerte, hielt Mingans Stimme sie zurück.„Felicitas, Ailina, ich würde gerne kurz mit euch sprechen.“

      Überrascht drehte Felicitas sich um. Was konnte ihr Lehrer von ihnen wollen? Bevor sie sich weiter Gedanken darüber machen konnte, fuhr Mingan auch schon fort. „Ich habe euch gestern während des Spieles beobachtet und festgestellt, dass ihr beide sehr talentiert seid. Deswegen wollte ich euch anbieten, euch zusätzlich zu euren normalen Unterrichtsstunden auszubilden.“

      Felicitas merkte, dass sie auf alles gefasst gewesen war, nur nicht darauf. Einen Augenblick lang war es still in dem kleinen Klassenzimmer. Nur die Stimmen ihrer Mitschüler hallten draußen in dem langen Gang wider, wurden jedoch leiser, je weiter sie sich entfernten.

      „Das geht nicht“, sagte Ailina auf einmal leise. „Wenn Sie damit meinen, dass Sie uns zusätzlich im Schwertkampf unterrichten wollen, dann ...“

      „Nicht nur im Schwertkampf“, unterbrach Mingan sie. „Allgemein.“

      „Aber ...“, setzte Felicitas an, hielt dann jedoch inne, weil sie nicht wusste, was sie eigentlich sagen wollte.

      „Es ist nur ein Angebot“, betonte Mingan noch einmal. „Wenn euch der normale Unterricht reicht, ist das auch in Ordnung. Aber wie gesagt: Ihr habt sehr großes Talent und ich finde, das sollte man fördern.“

      „Was meinst du?“, fragte Felicitas Ailina unsicher. Sie wusste nicht so recht, was sie von diesem Angebot halten sollte.

      Ailina zuckte mit den Schultern. „Warum nicht?“

      „Meinst du nicht, dass es dann etwas zu viel wird?“ Felicitas fühlte sich schon nach den normalen Unterrichtsstunden total ausgelaugt. Wie sollte sie dann noch zusätzliche Stunden überstehen? Und war sie gestern wirklich so gut gewesen? Sie erinnerte sich kaum noch an das Spiel. Es war, als wären ihre Erinnerungen zu einem dichten, zähen Nebel verschmolzen. Nur die Erschöpfung war geblieben, saß tief in ihren Gliedern und ließ alles um sie herum grau erscheinen.

      Plötzlich kam ihr ein ganz anderer Gedanke: Wenn Mingan sie zusätzlich unterrichtete, würden sie ihre Fähigkeiten vermutlich früher in den Griff bekommen. Und dann? Felicitas hatte Angst vor dem, was kommen würde, wenn sie ihre Fähigkeiten beherrschten. Mussten sie dann kämpfen? Mithelfen, die Menschen von den Theorien der Wandler zu überzeugen?

      „Wovor fürchtest du dich?“, fragte Mingan auf einmal ruhig. Felicitas zuckte zusammen. Konnte ihr Lehrer ihre Gefühle wirklich so deutlich spüren? Sie versuchte, ihre Gedanken in Worte zu fassen.

      „Was passiert danach“, wollte sie leise wissen, „wenn wir gelernt haben, unsere Gaben zu beherrschen?“

      Mingan schien einen Moment lang zu überlegen, dann deutete er auf die freien Stühle. „Setzt euch“, bat er.

      Felicitas und Ailina nahmen Platz.

      „Wenn ich mich nicht irre, müssten wir noch etwa zwanzig Minuten Zeit haben, bis eure nächste Stunde beginnt, oder?“

      Ailina sah auf ihre Uhr und nickte.

      „Was kommt danach ...“ Mingan sah aus dem Fenster und schwieg. Als Felicitas schon dachte, er hätte ihre Frage vergessen, antwortete er. „Unsere Aufgabe ist es, den Menschen den richtigen Weg zu zeigen. Das tun wir in ihren Träumen. Indem wir diese beeinflussen, zeigen wir ihnen neue Perspektiven – bessere Perspektiven. Es gibt viele Wandler auf der Erde. Auch wenn wir über alle Kontinente verteilt sind, haben wir doch das gleiche Ziel: die Menschheit zu einen und sie in eine bessere Zukunft zu führen. Und das tun wir durch ihre Träume.

      Früher war es so, dass Schüler, wenn sie ihre Ausbildung abgeschlossen hatten, wählen durften, welcher Aufgabe sie sich speziell verschreiben wollten. Sie konnten Lehrer werden oder Krieger. Wobei man zwei Arten von Kriegern unterscheiden musste: einmal die, die wirklich gekämpft haben, gegen Hakan und seine Wandler, und zum anderen jene, die die Träume der Menschen manipuliert haben. Auch sie wurden als Krieger bezeichnet, da sie für eine bessere Welt gekämpft haben.“ Mingan machte eine kurze Pause, um zu sehen, ob die Schülerinnen ihm folgen konnten.

      „Heute ist das allerdings ein wenig anders. Die Zeiten haben sich geändert und inzwischen ist es wichtig, dass sich jeder ausgebildete Wandler in allen drei Bereichen auskennt.“ Er schwieg kurz. „Habe ich deine Frage beantwortet?“, wollte er dann von Felicitas wissen.

      Felicitas nickte nur. Lehrer und Krieger. Kämpfen. Die Worte spukten ihr im Kopf herum und noch immer schien ihr Gehirn sich zu weigern, die volle Bedeutung zu begreifen. Wo war sie hier nur hineingeraten? Sie erinnerte sich an den Drachen, golden und wunderschön. Etu. Er hatte ihr ihre Kräfte verliehen. Ob es ihm wohl auch möglich war, sie ihr wieder abzunehmen?

      Mingan schien ihre Gedanken gelesen oder anhand ihrer Gefühle darauf geschlossen zu haben, denn er sagte: „Niemand kann dir deine Fähigkeiten abnehmen, Felicitas. Sie sind ein Teil von dir. Ob Gabe oder Fluch, liegt ganz bei dir.“

      Felicitas antwortete nicht auf seine Bemerkung. Sie starrte nur in das kleine Kaminfeuer, beobachtete, wie die Flammen immer höher züngelten und das Holz auffraßen. Ihr war klar, dass Mingan noch immer auf eine Antwort bezüglich ihrer zusätzlichen Unterrichtsstunden wartete. Widerwillig löste sie ihren Blick vom Feuer und sah Mingan an, der ihren Blick ruhig erwiderte. „Ich möchte euch helfen, Felicitas. Nicht schaden“, erklärte Mingan sanft.

      „Ich weiß.“ Felicitas zögerte kurz. „Wir können es ja mal versuchen. Wenn es zu viel wird, hören wir einfach wieder auf.“

      Mingan lächelte erleichtert. „Ich würde vorschlagen, wir beginnen gleich heute Morgen, direkt nach dem Essen. Ist das für euch in Ordnung?“ Felicitas und Ailina nickten nur.

      Nach dem Unterricht saß Felicitas in einem der gelben Sitzsäcke


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