Die Chroniken der Wandler. Laura Schmolke
Gel aufgestellt und er trug ein weites, weißes Hemd, dazu eine ausgewaschene Jeans. Eigentlich machte er einen ganz netten Eindruck.
„Er sieht gut aus“, flüsterte Jessy etwas zu laut.
Ouray gab vor, es nicht zu hören. „Energie ist die Grundlage unserer Kräfte. Um Materie, Gefühle oder Träume zu manipulieren, brauchen wir Energie“, erklärte Ouray.
„Deswegen war ich immer so müde, nachdem ich Sandras Gefühle gespürt habe!“, schoss es Felicitas durch den Kopf.
„Es wird einige Zeit dauern, bis euer Körper sich an die Mengen von Energie gewöhnt haben wird, die wir jedes Mal bezahlen müssen, wenn wir unsere Kräfte gebrauchen.“ Er schwieg kurz. „Alles besteht aus Energie: die Luft, die wir atmen, andere Lebewesen und wir selbst.“ Er lächelte. „Ich möchte euch bitten, kurz die Augen zu schließen und euch zu konzentrieren. Auf euren Atem, auf den gleichmäßigen Rhythmus eures Herzens. Alles besteht aus Energie. Sie strömt durch euren Körper wie Blut, versorgt euch mit der Kraft, die ihr zum Leben braucht. Spürt ihr sie?“
„Nein“, antwortete Jessy resigniert.
„Dann versuch es“, wies Ouray sie an. Nun schloss auch Felicitas die Augen. Um sie herum wurde es still und bald hörte sie nur noch ihren eigenen, gleichmäßigen Atem. Sie versuchte, sich die Energie vorzustellen, die mit jedem Herzschlag durch ihren Körper gepumpt wurde. Die Kraft. Die Wärme. Doch da war nichts. Nur undurchdringliche Schwärze, die sie einhüllte und jedes Gefühl erstickte.
„Wir können unsere Energie nicht nur einsetzen, um die Drei Ebenen zu beherrschen“, erklärte Ouray schließlich, „sondern können sie auch zu einer Art Energieball formen. Dazu müsst ihr euch weiter konzentrieren. Spürt die Energie, die mit jedem Atemzug durch euren Körper pulsiert ... verschmelzt mit ihr.“ Einige Augenblicke lang war es still, bis Ouray weitersprach: „Streckt nun die Hände aus und versucht, eure Energie zu bündeln. Stellt euch vor, ihr könntet sie aus eurem Körper heraus in eure Hände fließen lassen ...“
Felicitas formte die Hände zu einer Schale und bemühte sich, sich zu konzentrieren. Sie spürte ihren eigenen Herzschlag, ruhig und regelmäßig. Poch poch. Poch poch. Poch poch.
„Sehr gut! Sehr gut!“ Ourays Stimme riss sie aus ihren Versuchen. Überrascht öffnete sie die Augen. In Ailinas geöffneten Händen schwebte eine leuchtende Kugel.
„Wow!“ Jessys Augen wurden groß. „Wie hast du das gemacht?“
Ailina antwortete nicht. Sie starrte nur auf die Kugel, als könne sie selbst nicht glauben, was sie sah.
„Ich ... ich weiß es nicht“, stammelte sie dann, ohne den Blick von dem Energieball zu wenden, der nun langsam kleiner wurde und in sich zusammenfiel. Erschöpft ließ Ailina die Arme sinken.
Wieder war es still im Klassenzimmer.
„Ich möchte die Stunde an dieser Stelle beenden“, erklärte Ouray und wandte sich in Richtung Tür, um zu gehen.
Jessy sah ihm nach. „Wie alt, meint ihr, ist er?“, wollte sie wissen.
„Wer?“ Ailina schreckte hoch.
„Na Ouray, wer denn sonst?“
„Zu alt für dich“, murmelte Ailina und sank auf ihrem Stuhl wieder in sich zusammen. Felicitas musterte sie besorgt.
Die Tage vergingen langsam und schleppend. Felicitas kam sich vor wie in einer Art Trance. Sie redete zwar mit den anderen, saß im Unterricht und bemühte sich, all das neue Wissen in sich aufzunehmen, doch sie nahm das alles nicht wirklich wahr.
Die Zeit verging unendlich langsam und zugleich so schnell, dass sie sich einer Stunde erst dann richtig bewusst wurde, wenn sie vorüber war. Fast jeden Abend nahm sie sich vor, noch in die Bibliothek zu gehen, aber nach dem Unterricht war sie jedes Mal so müde, dass sie wie ein Stein ins Bett fiel.
Sie übte und übte. Bald schon gelang es Felicitas, Energiebälle entstehen zu lassen und sich vor fremden Gefühlen zu schützen. Das Mädchen in dem weißen Kleid tauchte nicht mehr in ihren Träumen auf.
Felicitas starrte an die Zimmerdecke. Sie wusste nicht genau, wie viele Wochen vergangen waren. Vielleicht vier. Vielleicht fünf oder sogar sechs. Durch einen Spalt im Vorhang fiel helles Sonnenlicht und tanzte auf ihrer Bettdecke. Ailina saß am Schreibtisch und zeichnete, das Kratzen ihres Bleistifts auf dem Papier war das einzige Geräusch in der Stille. Felicitas wälzte sich auf die andere Seite.
Sie hatte sich noch nicht damit abgefunden, eine Wandlerin zu sein. Nicht wirklich. Doch das merkte sie nur morgens, wenn sie auf einmal allein war und es nichts mehr gab, was die Gedanken zurückhielt, die sie nachts verdrängte. Nachts verdrängte ...
Wie sehr sie sich schon daran gewöhnt hatte, jeden Abend aufzustehen und zu frühstücken. Zuzusehen, wie die Sonne unterging und es draußen dunkel wurde. War es nicht seltsam, wie schnell sich die Gewohnheiten eines Menschen ändern ließen?
Felicitas seufzte leise und drückte ihren Kopf in das Kissen. Wie sehr sie diese Stunden doch hasste! Diese Stunden, die sie noch vor wenigen Wochen so geliebt hatte. In denen sie am Fenster gesessen und auf die leere, stille Straße geschaut hatte. Irgendwann wurde Felicitas doch vom Schlaf übermannt und glitt in einen konfusen, wirren Traum.
***
„Wir kamen aus dem Land der Träume,
um den Weg zu weisen
in eine bessere Welt.“
Die Stimmen klangen leise, wie aus weiter Ferne.
„Die Schatten sind unsere Heimat,
der Tod unsere Zuflucht.
Fällt das Sonnenlicht der Menschen auf uns,
so ist dies unser Ende ...“
Die Worte verschmolzen zu einem fremdartigen Singsang, wurden mal lauter, mal leiser.
„Niemand darf von uns wissen,
von der Macht der Wandler.“
***
Felicitas schreckte hoch. Einige Augenblicke lang saß sie aufrecht im Bett und hörte nur das Pochen ihres Herzens und ihren eigenen keuchenden Atem. Sie warf einen schnellen Blick hinüber zu Ailinas Bett, auf dem ihre Freundin ruhig schlief, den bronzefarbenen Anhänger ihrer Kette mit einer Hand fest umschlossen.
Felicitas atmete langsam aus und ließ sich zurück in die Kissen sinken. Sie schloss die Augen und war gerade dabei, zurück in den Schlaf zu sinken, als sie die Stimmen erneut vernahm. Lauter und deutlicher diesmal.
„Ich will für die Träume kämpfen,
für eine bessere Welt.
Denn das ist meine Aufgabe ...“
Die Worte an sich waren leise, kaum mehr als ein Flüstern, doch sie schienen von den Wänden zurückgeworfen zu werden, wurden lauter und lauter. Felicitas verkroch sich tiefer unter ihrer Bettdecke. Sie wusste nicht, ob sie sich die Stimmen nur einbildete oder tatsächlich hörte, aber es ging eine starke Faszination von ihnen aus.
„Bis unsere Mission vollendet ist
und wir zurückkehren
in das Land der Träume ...“
Die Worte verschmolzen ineinander, wurden zu verschlungenen Melodien, die fremd und zugleich vertraut klangen. Felicitas gab sich ihnen hin, spürte, wie sie von ihnen fortgetragen wurde und Dunkelheit sie umfing.
Lautes Pochen an der Tür schreckte Felicitas aus dem Schlaf.
„Ja?“, rief Ailina und richtete sich auf. Ihre Haare waren zerzaust und ihre Augen noch klein und voller Schlaf.
Wieder klopfte es.
„Kommt so schnell wie möglich in den großen Saal“, rief jemand von draußen,