Die Chroniken der Wandler. Laura Schmolke
machte eine kurze Pause und schien auf weitere Fragen zu warten. Als keine kamen, fuhr sie fort. „Noch könnt ihr fremde Gefühle nur durch Körperkontakt wahrnehmen, aber das wird sich ändern, wenn ihr besser mit euren Fähigkeiten vertraut seid.“
„Moment“, Julys Stimme klang scharf, „soll das heißen, Sie können jetzt gerade all unsere Gefühle spüren?“
„Keine Sorge.“ Wieder lächelte Amitola. „Jetzt gerade nicht. Denn natürlich gibt es auch Möglichkeiten, sich vor fremden Gefühlen zu schützen.“
„Wie soll das gehen?“, drängte Felicitas, als die Lehrerin zögerte.
„Ich hatte gehofft, jemand von euch könnte mir das sagen?“ Amitola sah die Schüler fragend an.
„Man muss sich auf seine eigenen Gefühle konzentrieren“, erklärte Ailina leise. „So sehr, dass man die des anderen gar nicht spürt.“
„Ganz genau.“ Amitola nickte. „Auf keinen Fall darf man die fremden Gefühle aktiv bekämpfen!“
Felicitas blickte zu Boden. So einfach wäre das gewesen? Sie hätte sich nur auf ihre eigenen Gefühle konzentrieren müssen, um die von Sandra nicht zu spüren?
Sandra.
Felicitas presste die Augen zu, doch das Bild von Sandra hatte sich wieder in ihre Gedanken eingebrannt. Die aufgedrehte, glückliche Sandra, die auf einmal geschrien und dann reglos auf dem Teppich gelegen hatte. Felicitas spürte, dass jemand leicht ihre Hand berührte, und wusste, auch ohne die Augen zu öffnen, dass es Ailina war.
„Siehst du? Es ist gar nicht schwer“, flüsterte ihre Freundin, „du kannst es schon.“
„Was kann ich schon?“, wollte Felicitas verwirrt wissen. Jetzt öffnete sie doch die Augen und blickte Ailina fragend an.
„Dich so sehr auf deine eigenen Gefühle konzentrieren, dass du die fremden nicht mehr spürst.“
Mit einer Mischung aus Entsetzen und Erstaunen fiel Felicitas auf, dass Ailina sie soeben berührt hatte, ohne dass sie deren Gefühle wahrgenommen hatte. Ohne dass diese Welle aus fremden Gefühlen über ihr zusammengebrochen war.
„Wir wollen das gleich ein wenig üben.“ Amitolas Stimme riss Felicitas aus ihren Gedanken. „Dazu schließt ihr bitte die Augen und konzentriert euch auf ein starkes Gefühl. Das kann Freundschaft sein, Liebe ...“
„Hass und Zorn“, ergänzte Alex und grinste.
Amitola ging nicht darauf ein. „Ganz egal, wichtig ist nur, dass dieses Gefühl euch ausfüllt. Ich werde euch dann nacheinander berühren ...“
In der restlichen Stunde lernten die Schüler, sich vor fremden Gefühlen zu schützen. Amitola versicherte ihnen mehrmals, dass sie anfangs zwar viel üben müssten, sich stark genug auf ihre eigenen Gefühle zu konzentrieren, dass sie mit der Zeit aber keine Probleme mehr damit haben würden und das Ganze dann automatisch geschähe.
„Oh Mann, habe ich einen Hunger!“ Kaum hatte Amitola die Stunde nach einer gefühlten Ewigkeit für beendet erklärt, sprang Jessy auf. „Ich gehe jetzt erst mal etwas essen. Kommt jemand mit?“
Felicitas folgte den anderen in den großen Saal, der jetzt vollkommen leer war. Als die Schüler durch die Halle schritten, sprach niemand ein Wort. Einzig die Geräusche ihrer Schritte durchbrachen die unheimliche Stille.
Klack. Klack. Klack.
Julys Absätze waren am lautesten. Dann begann Christiane zu summen. Ihre leisen Töne verklangen in dem großen Saal.
Auf einmal kam Felicitas die ganze Situation seltsam unwirklich vor. Als wäre sie in einen schlechten Film hineingeraten. Oder als würde sie träumen. Ja. Ein Traum. Auf einmal kam ihr der Gedanke gar nicht mehr so abwegig vor. Ein Traum. Warum eigentlich nicht? Das hier war doch alles so unmöglich ...
Auf den Tischen standen Schalen mit Früchten und Krüge mit verschiedenen Säften. Sogar Jessy schwieg, während sie aßen und tranken. Es herrschte eine seltsame, melancholische Stimmung, die sich erst löste, als die Schüler wieder im Klassenzimmer waren. Hier, in dem nun schon vertrauten kleinen Raum mit dem gemütlichen Kaminfeuer, wirkten auf einmal alle viel entspannter.
„Ihr kommt schon alle nach dem Abendessen in den Gemeinschaftsraum, oder?“, fragte July. „Immerhin werde ich morgen achtzehn und ...“
„Natürlich!“, unterbrach Jessy. Ihre Augen leuchteten. „Wir feiern rein! Bis morgen früh ... oder Abend ... oder so, ist doch auch egal. Auf jeden Fall wird das cool!“
„Beim Feiern bin ich dabei!“ Alex hatte wieder sein typisches Grinsen im Gesicht.
Plötzlich klopfte es. Nicht nur Felicitas zuckte überrascht zusammen, so sehr waren die Jugendlichen in ihre Gespräche vertieft gewesen.
„Guten Abend.“ Im Türrahmen stand ein älterer Mann. Er war in einen bodenlangen, schwarzen Umhang gehüllt und hatte seine langen, weißen Haare zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Seine schmalen Lippen waren zu einem Lächeln verzogen, sodass sich um seine Augen herum kleine Fältchen bildeten. „Willkommen an unserer Schule.“
Als er in die Mitte des Klassenzimmers schritt, ging er trotz seines Alters aufrecht und seine blauen Augen funkelten lebhaft. Felicitas konnte nicht anders, sie musste ihn unverwandt anstarren. Da war etwas Seltsames an diesem Mann, eine Aura, eine Ruhe, die von ihm ausging und sie in seinen Bann zog.
„Mein Name ist Mingan“, verkündete der Mann, „und ich werde euch im Kampf unterrichten.“ Er drehte sich einmal um sich selbst, um jedem einzelnen Schüler kurz in die Augen zu sehen. Felicitas zuckte zusammen, als sein durchdringender Blick sie streifte. „Es ist nicht nur unsere Aufgabe, den Menschen die Augen zu öffnen und sie wieder an die Wunder der Natur und die Magie in unserer Welt zu erinnern, sondern auch, uns gegen die andere Gruppe von Wandlern zu schützen und sie im Notfall mit allen Mitteln zu bekämpfen. Allen voran ihren Anführer Hakan, aber auch seinen Sohn oder die Seherin. Bei mir werdet ihr alles über die Stärken und Schwächen unserer Feinde lernen, über unsere Arten zu kämpfen und uns zu duellieren.“ Wieder ruhte Mingans Blick für einen kurzen Moment auf Felicitas. „Hoffen wir, dass es noch eine ganze Weile dauern wird, bis ihr diese Techniken brauchen werdet“, murmelte er leise, mehr zu sich selbst.
„Aber ich will nicht kämpfen!“, flüsterte Christiane und sah Mingan aus ihren großen, grünen Augen hilflos an.
„Wenn du mit deiner Ausbildung fertig bist, kannst du deinen eigenen Weg wählen: Krieger oder Lehrer, je nach deinen Vorlieben und Stärken. Aber manchmal kann man Kämpfe leider nicht vermeiden.“ Er seufzte, bevor er fortfuhr. „Ehe ich euch in die Praxis einführe, möchte ich euch ein bisschen über unsere Kampfweisen aufklären“, erklärte er. „Wir haben mit Hakan einen Pakt geschlossen, der sowohl uns als auch unsere Feinde dazu zwingt, unsere Existenz geheim zu halten. Aus diesem Grund sind wir verpflichtet, lange Gewänder, die uns vollständig verhüllen und nur die Augen frei lassen, zu tragen, sobald wir diese Schule verlassen. Je nach Rang des entsprechenden Wandlers hat sein Gewand eine andere Farbe.“ Er schwieg kurz, bevor er fortfuhr. „Es ist nicht einfach, in diesen Gewändern zu kämpfen, aber das werdet ihr alles noch lernen. Genauso wie den Schwertkampf.“
„Schwertkampf?“, fragte Leo erstaunt. „Wozu brauchen wir das denn?“
„Oft werden Kämpfe zwischen einzelnen Personen in Duellen ausgetragen. Um sich zu duellieren, gibt es drei Möglichkeiten: einmal den Kampf auf Ebene Zwei - der Gefühlsebene. Gelingt es einem der beiden Kontrahenten, den Schutzwall seines Gegners zu durchbrechen, gewinnt er.
Dann das direkte Kräftemessen: Die beiden Gegner schleudern Energiebälle gegeneinander. Treffen sie aufeinander, werden die Kontrahenten für kurze Zeit durch einen Energiestrahl verbunden, auf dem die Energiebälle sich frei bewegen können. Geht einem der Duellanten die Kraft aus, wird die energetische Verbindung unterbrochen und er wird von den Energiebällen getroffen. Auch das werdet ihr alles noch