Die Chroniken der Wandler. Laura Schmolke
benutzt man nicht einfach Pistolen?“, wollte Leo wissen.
„Es hat nichts Ehrenvolles, mit einer Pistole um sich zu schießen und wahllos Menschen oder Wandler zu töten“, erklärte Mingan. „Wir bevorzugen den Schwertkampf.“
Felicitas' Mundwinkel zuckten unwillkürlich, als sie sich den alten Mingan mit einem Schwert in der Hand vorstellte.
„Ob er überhaupt noch kämpfen kann?“, fragte sie sich und musterte ihren Lehrer abschätzend. Trotz seines Alters stand er aufrecht und wirkte selbstbewusst, obwohl sein Körper von dem schwarzen Umhang, den er trug, fast vollständig verhüllt wurde. Wieder fiel Felicitas die unheimliche Ruhe auf, die von diesem Mann auszugehen schien und zu der das Funkeln in seinen Augen so gar nicht passen wollte.
„Was er wohl schon alles erlebt hat?“ Wieder war diese Frage plötzlich da, bevor Felicitas es wirklich merkte. „Bestimmt hat er schon oft gekämpft. Hat schon oft seine Gaben angewendet. Ob auch er früher seine Familie verlassen hat? Ob er jemals gezweifelt hat, ob das, was er tut, richtig ist?“
Mingan erklärte die Gewänder, die außerhalb der Schule getragen werden mussten, und beschrieb verschiedene Arten von Schwertern, doch es gelang Felicitas nicht, sich auf den Unterricht zu konzentrieren.
Sie starrte an Mingan vorbei aus dem Fenster. Die Welt wurde von einer tiefen, undurchdringlichen Dunkelheit verschlungen. Unwillkürlich dachte Felicitas an die vielen Nächte, die sie zu Hause wach vor ihrem Fenster verbracht hatte, um eben jene Dunkelheit zu genießen. Die Nacht war einfach faszinierend gewesen. Die Stille und Einsamkeit, die sie mit sich brachte, hatte sie immer daran erinnert, dass der Mensch nicht alles begriff, nicht alles nach seinem Willen gestalten konnte. Aber jetzt, als Wandlerin, war plötzlich alles anders. Die Nacht war für sie zum Tag geworden. Als wollten die Wandler selbst die Zeiten beherrschen, auf die die Menschen keinen Einfluss hatten.
Nach dem Unterrichtsfach Kampf hatten sie Materie.
Die Lehrerin, Abey, war groß und schlank und hatte lange, braune Haare. Ihre Augen waren ebenfalls braun und musterten die Schüler aufmerksam.
„Ihr seid also die neue Klasse. Willkommen.“ Abey lächelte. Ein echtes, offenes Lächeln. Sie fuhr sich mit der Hand durch die Haare und ließ sich auf dem freien Platz zwischen July und Simon nieder. „Ihr seht erschöpft aus“, bemerkte die Lehrerin.
Sie schwieg einige Augenblicke, bevor sie etwas leiser sagte: „Ich weiß, dass es nicht einfach ist, aus seinem Leben herausgerissen zu werden. Aber ihr wurdet auserwählt, um mitzuhelfen, die Welt zu verbessern. Diese Aufgabe ist ein Teil von euch, genau wie eure Fähigkeiten. Ihr müsst lernen, sie zu akzeptieren.“
Dann räusperte sie sich und fuhr sich wieder mit der Hand durch die Haare. „Wie ich schon gesagt habe, bin ich eure Lehrerin in Materie. Materie ist die erste der Drei Ebenen. Alles besteht aus Materie.“ Sie machte eine Geste, die den ganzen Raum einschloss.
„Stimmt es, dass wir wirklich lernen, Gegenstände aus dem Nichts zu erschaffen?“, fragte Jessy. Sie klang aufgeregt.
„Nun ja ... eigentlich nicht. Aber beinahe“, fügte Abey schnell hinzu, als sie Jessys enttäuschtes Gesicht sah. „Materie aus dem Nichts zu erschaffen, ist unmöglich. Aber ihr kennt doch sicherlich alle Einsteins berühmte Gleichung E = mc²? Laut ihr sind Masse und Energie nur zwei Einheiten einer gleichen Größe ...“
„Also ist es möglich, Energie in Materie umzuwandeln“, stellte Simon nüchtern fest. Felicitas sah den braunhaarigen Jungen überrascht an. Es war das erste Mal, dass er freiwillig etwas gesagt hatte.
„Genau.“ Abey nickte. „Als Wandler könnt ihr Energie viel besser wahrnehmen als normale Menschen. Ihr habt sozusagen ... ein besseres Gespür dafür. Denn die Drei Ebenen, auf denen eure Fähigkeiten beruhen, sind alle auf Energie aufgebaut. Materie, Gefühl, Traum.“ Sie erklärte weiter, wie Materie aufgrund der hohen Temperatur und Dichte in den Sekunden nach dem Urknall entstanden war und wie sich aus Staubteilchen durch Rotation die Planeten geformt hatten.
Es beruhigte Felicitas etwas, dass Abey nur von Dingen sprach, die sie schon längst gelernt hatte. Sie fürchtete sich davor, Materie zu erschaffen oder ihre neuen Fähigkeiten auf irgendeine andere Weise einzusetzen.
Nach dem Abendessen zogen Ailina und Felicitas sich in ihr Zimmer zurück. Felicitas ließ sich auf ihr Bett fallen. Sie fühlte sich so erschöpft wie schon lange nicht mehr. „Wenn das hier jeden Tag so abläuft, halte ich das keine zwei Wochen durch“, stöhnte sie.
Ailina antwortete nicht. Sie hatte sich wieder an den Schreibtisch gesetzt und starrte auf ihre Zeichnung, ohne sie wirklich zu sehen.
Plötzlich klopfte es und Jessy kam ins Zimmer. „Wo bleibt ihr denn? Alle anderen sind schon da!“
„Sind schon wo?“, fragte Felicitas.
„Na, auf Julys Party!“
„Die Party ...“, murmelte Ailina, wie zu sich selbst.
„Ihr kommt doch, oder?“, wollte Jessy vorsichtig wissen.
„Ja. Ja, natürlich.“ Mühsam richtete Felicitas sich auf. Sie hatte zwar nicht besonders viel Lust, jetzt auf eine Party zu gehen, aber dort würde sie zumindest abgelenkt werden. Auch Ailina folgte ihnen.
Der Gemeinschaftsraum war kreisrund und nicht besonders groß. An den Wänden lagen gelbe Sitzsäcke, auf denen sich die anderen bereits niedergelassen hatten, und der Boden war mit grauen Teppichen ausgelegt.
Leo war gerade dabei, eine Musikanlage anzuschließen. Durch die kleinen Fenster fielen schon die ersten Strahlen Sonnenlicht und ließen den Raum etwas fröhlicher wirken. Draußen zwitscherten Vögel und eine Taube gurrte. Doch drinnen herrschte drückendes Schweigen.
July hatte es anscheinend geschafft, Süßigkeiten zu organisieren, denn in der Mitte des Kreises aus Sitzsäcken war ein großer Haufen Gummibärchen und Schokolade aufgetürmt, daneben sammelten sich bereits leere Verpackungen.
Felicitas setzte sich zwischen Ailina und Christiane und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Sie zuckte zusammen, als auf einmal laute Musik den Raum erfüllte, doch Leo drehte sie schnell wieder leiser.
„Ehrlich gesagt habe ich mir meinen achtzehnten Geburtstag anders vorgestellt“, meinte July auf einmal leise.
„Ich habe mir vieles anders vorgestellt“, flüsterte Christiane.
„Aber wir sind jetzt nun mal hier und sollten das Beste daraus machen.“ Jessy bemühte sich, fröhlich zu klingen. „Carpe diem!“
„Oh bitte, komm mir nicht mit dem Scheiß!“ July verdrehte die Augen.
„Aber es ist doch wahr!“, verteidigte sich Jessy. „Ihr sitzt da, als ... als wäre gerade die Welt untergegangen!“
„Das ist sie ja auch.“ July sprang auf. „Verdammt noch mal!“, schrie sie. „Ich wollte doch überhaupt nicht hierher! Ich habe doch eine Familie! Einen Freund! Ein Leben!“
Plötzlich war es wieder still. Nur die Musik dudelte noch leise im Hintergrund. Mit einem langen Seufzer ließ July sich zurück in ihr Kissen sinken. „Tut mir leid“, murmelte sie und zupfte ihr Top zurecht, „ich ... habe mir nur vieles anders vorgestellt.“
„Vielleicht ist die eine Welt für uns untergegangen.“ Ailinas Stimme klang ruhig. „Doch dafür hat sich uns eine vollkommen neue eröffnet. Sie wartet nur darauf, von uns erobert zu werden.“
„Mädchen“, Alex verdrehte die Augen, „haben einen Hang zur Dramatik.“ Er versuchte, locker zu klingen, doch es gelang ihm nicht.
„Hey, was soll das heißen?“ Jessy, die neben ihm saß, ging auf seine Stichelei ein und rammte ihm den Ellbogen in die Rippen.
„Gewalt ist keine Lösung, Kinderchen!“, mischte sich nun Leo mit erhobenem Zeigefinger und verstellter Stimme ein.
„Aber