Die Chroniken der Wandler. Laura Schmolke

Die Chroniken der Wandler - Laura Schmolke


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ließ es dann aber bleiben.

      „Meinst du, wir dürfen wieder nach Hause, wenn wir unsere Fähigkeiten im Griff haben?“, wollte sie stattdessen wissen. Ihre Stimme zitterte.

      Ailina antwortete nicht sofort. „Nein“, sagte sie schließlich leise, „nein, das glaube ich nicht.“

      *

      Das Höhlengleichnis

      Was ist Wahrheit? Früher habe ich mich das oft gefragt. Manchmal frage ich es mich immer noch und die Frage macht mir Angst. Vielleicht, weil es keine Antwort darauf gibt. Vielleicht, weil es so viele gibt.

      Felicitas spürte, wie etwas in ihr zusammenbrach. Sie hatte es gewusst. Ja, sie hatte es wirklich gewusst, aber es noch einmal von Ailina zu hören, laut ausgesprochen, war etwas anderes.

      Sie ging durchs Zimmer und ließ sich auf ihr Bett fallen. Auf einmal fühlte sie sich seltsam kraftlos.

      Ailina summte leise das Lied mit, das ihr Handy noch immer in einer Endlosschleife abspielte. Es klang traurig.

      „Erzähle mir von ihr“, bat sie plötzlich.

      „Von wem?“

      „Von deiner Schwester.“ Ailina setzte sich neben Felicitas auf das Bett und blickte auf das Foto, das auf dem Nachttisch lag.

      „Was ... was soll ich denn erzählen?“

      „Irgendetwas.“ Ailina zuckte mit den Schultern.

      „Okay ...“ Felicitas zögerte noch kurz, dann begann sie. Sie erzählte davon, dass Sandra einmal aus Versehen den Christbaum umgeworfen hatte, als sie dagegen gelaufen war, weil der Teppich unter ihr weggerutscht war. Und sie berichtete von dem großen Fest in der Sporthalle ihrer Stadt, als Sandra oben an der Kletterwand gehangen und sich nicht mehr hinuntergetraut hatte. Sie erzählte von ihrem Urlaub in Italien vor drei Jahren und dass sie vorgehabt hatten, im nächsten Jahr auf die Kanarischen Inseln zu fliegen.

      Ailina war eine gute Zuhörerin. Sie unterbrach Felicitas kein einziges Mal, aber manchmal lachte sie leise.

      Es war ein schöner Moment inmitten all des Schmerzes und der Fremdheit und Felicitas wünschte sich, er würde ein wenig länger andauern. Doch irgendwann fiel ihr nichts mehr ein, was sie noch erzählen konnte. Wieder war es still im Zimmer, doch dieses Mal war es eine andere Stille. Sie war weder schwer noch drückend, eher samten und schleichend. Sie hüllte Ailina und Felicitas ein, ohne dass die beiden es wirklich merkten, so sehr waren sie in ihre Gedanken vertieft.

      „Was ist mit dir?“, fragte Felicitas schließlich leise. „Hast du Geschwister?“ Ailina schwieg einige Augenblicke, als überlegte sie. Gerade als sie antworten wollte, klopfte es laut an der Tür.

      Noch bevor irgendjemand etwas erwidern konnte, wurde die Tür geöffnet und Jessy platzte in den Raum. Sie grinste. „Ihr solltet ein Namensschild an die Tür hängen! Ich war schon zweimal im falschen Zimmer!“ Sie holte kurz Luft, dann redete sie sofort weiter. „Eigentlich wollte ich euch holen, es gibt nämlich in zehn Minuten Essen. Und wisst ihr was? July wird übermorgen achtzehn und sie dachte, wir könnten morgen die Nacht durchmachen und ... oh“, sie kicherte, „ich meine natürlich, den Tag durchmachen ... was haltet ihr davon?“

      „Ich ...“, setzte Felicitas an, wurde aber sofort wieder unterbrochen.

      „Im Gemeinschaftsraum steht eine Musikanlage und wir kriegen bestimmt ein paar Süßigkeiten ... Ich glaube aber kaum, dass man hier an der Schule Alkohol trinken darf, dann werden wir wohl ohne auskommen müssen ... Kommt ihr?“

      Felicitas und Ailina schwiegen, während sie Jessy durch die Gänge und Korridore der Schule folgten. Es war sowieso nicht nötig, etwas zu sagen, weil Jessy ununterbrochen redete. Ab und zu begegneten sie anderen Schülern, aber Felicitas fand trotzdem, dass dieses Schloss viel zu leer wirkte.

      Als Felicitas nach dem Essen in ihr Bett fiel, fühlte sie sich total erschöpft. Trotzdem nahm sie sich das Foto von ihrem Schreibtisch und betrachtete es. Mit den Fingerspitzen zeichnete sie Sandras Gesicht nach, ihre langen Haare, ihr glückliches Lächeln. Sie hörte das Kratzen von Ailinas Bleistift auf Papier. Draußen schien gerade die Sonne aufzugehen, denn durch die orangefarbenen Vorhänge fiel schummriges Licht auf den Fußboden. Für alle anderen würde der Tag jetzt erst beginnen. Mit einem unterdrückten Seufzer schloss Felicitas die Augen und drückte das Foto an ihre Brust.

      Eva.

      Eva bedeutet Leben.

      Warum musste sie ausgerechnet jetzt wieder daran denken?

      Als Felicitas die Augen öffnete, leuchtete um sie herum alles in einem rot-orangefarbenen Licht. Für einen kurzen Augenblick wusste sie nicht, wo sie war, doch dann entdeckte sie die dunkle Silhouette, die vor dem Fenster stand. Ailina. Die Wandler. Die Bibliothek.

      Leise stand Felicitas auf und trat neben ihre Zimmergenossin, die ihr inzwischen zur Freundin geworden war. Die Sonne ging gerade unter und tauchte den Himmel in ein helles, orangefarbenes Licht. Weder Felicitas noch Ailina sagten ein Wort, während es draußen immer dunkler wurde. Fasziniert beobachteten sie, wie das Orange einem dunkleren Violett wich und die ersten Sterne aufglommen. Auch der Mond stand bereits am Himmel. Wieder fiel Felicitas auf, dass er hier heller zu leuchten schien als in der Stadt.

      „Die Welt versinkt im Feuer“, murmelte Ailina auf einmal. Sie sprach leise, wie zu sich selbst.

      Felicitas starrte nur weiter nach draußen, beobachtete, wie die Schatten den kleinen Hof immer weiter eroberten. Wieder musste sie an ihre Familie denken. Was Sandra wohl gerade machte? Ob sie schlafen konnte?

      Sie spürte Ailinas Blick auf sich und drehte sich um, sodass sie ihre Freundin ebenfalls ansah. Kurz schwiegen sie.

      „Wir sollten uns fertig machen“, meinte Ailina schließlich.

      Felicitas nickte nur. Sie hatte Angst, bei dem Versuch zu sprechen laut loszuschluchzen.

      Als Ailina die kahle Glühbirne, die von der Decke baumelte, anschaltete, war der ganze Zauber plötzlich vorüber. Nun konnte man nur noch die groben Umrisse der Mauern draußen ausmachen und ein paar einzelne, leuchtende Fenster auf der anderen Seite des Schlosses.

      In dem großen Saal herrschte bereits reger Betrieb und Felicitas und Ailina schlug der Duft von frischen Brötchen entgegen. Fröhliches Stimmengewirr erfüllte die Luft und wollte so gar nicht zu Felicitas' melancholischer Stimmung passen. Fast verzweifelt ließ sie ihren Blick durch die Halle schweifen, auf der Suche nach vertrauten Gesichtern. Doch da war nur Ituma, die sich über ihren Teller beugte, und Enapay, der mit einem in einen schwarzen Umhang gekleideten Mann sprach.

      „Hallo-ho!“ Plötzlich tauchte Jessy vor ihnen auf. Sie trug ein grünes T-Shirt, dazu eine dunkelblaue Jeans. Ihre Locken hatte sie zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengefasst. „Habt ihr gut geschlafen? Meint ihr, heute dürfen wir endlich mit dem richtigen Unterricht anfangen?“

      „Beides ja“, meinte Ailina und gähnte herzhaft, während Felicitas in sich hineingrinste.

      Jessy nickte zufrieden. Anscheinend hatte sie genau das hören wollen. „Wollt ihr hier Wurzeln schlagen?“, kam auch schon die nächste Frage. Doch diesmal wartete sie gar nicht erst auf eine Antwort. Als die drei an ihrem Tisch ankamen, waren ihre Klassenkameraden bereits dort. Felicitas nahm sich ein Brötchen und bestrich es dick mit Nutella, doch bereits nach dem ersten Bissen verging ihr der Appetit.

      Während die anderen aßen, versuchte Felicitas, sich an die zugehörigen Namen zu erinnern. Die Blonde war July; die Kleine mit den kurzen Haaren Christiane; der Junge mit dem schwarzen Lockenkopf hieß Alex; und dann waren da noch die Zwillinge ... Leo und Simon. War Leo der mit der Strähne und dem Piercing gewesen? Sie beobachtete die beiden verstohlen und wunderte sich wieder darüber, wie zwei Menschen sich nur so ähnlich sehen konnten.

      „Guten Morgen.“ Überrascht


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