Die Chroniken der Wandler. Laura Schmolke
schwoll der Lärmpegel wieder an.
„Ich freu mich so! Das wird so cool!“, rief Jessy und klatschte aufgeregt in die Hände. Felicitas musste lächeln. Jessy wirkte wie ein kleines Kind an Weihnachten, das sich darauf freute, endlich die Geschenke zu öffnen.
„Wie, meinst du, wird hier der Unterricht sein?“, wandte Felicitas sich an Ailina. Mit Jessy konnte man momentan keine vernünftige Unterhaltung führen.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Ailina ruhig und nahm sich ein Brötchen.
„Wie kannst du jetzt nur ans Essen denken?“, rief Jessy etwas zu laut.
Ailina zuckte mit den Schultern. „Wenn ich nicht esse, habe ich Hunger. Und wenn ich Hunger habe, kann ich mich nicht so gut konzentrieren“, erklärte sie gelassen. Für einen kurzen Augenblick sah Jessy sie perplex an, dann nahm sie sich auch ein Brötchen.
Gegen ihren Willen musste Felicitas lächeln. „Sandra“, murmelte sie leise.
Nach dem Essen verließen die älteren Schüler die Halle. Langsam wurde Felicitas nervös, während sie immer wieder zu dem Tisch der Lehrer hinaufschielte. Ituma sprach noch immer mit Enapay. Worüber die beiden wohl redeten?
Felicitas hing ihren Gedanken nach, während Jessy neben ihr ununterbrochen plapperte und Ailina gedankenverloren Muster in einen Klecks Marmelade zeichnete.
„Hallo und herzlich willkommen an unserer Schule!“ Itumas Stimme riss Felicitas aus ihren Gedanken. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass die Lehrerin hinter sie getreten war. „Darf ich euch bitten, mir zu folgen?“ Felicitas glaubte, einen leichten französischen Akzent in ihrer Stimme wahrzunehmen. Gemeinsam mit den fünf anderen folgten Ailina, Jessy und Felicitas Ituma aus dem Saal hinaus und dann wieder durch die Gänge des Schlosses. Die fremdartigen Muster leuchteten jetzt noch viel stärker als vorher und ließen Felicitas erschaudern. Was sie wohl bedeuteten?
„Es sind Schriftzeichen“, sagte Ailina plötzlich leise.
„Was?“
„Die Linien.“ Die Fingerspitzen des blonden Mädchens fuhren an der Wand entlang. „Sie gehören zu einer alten Sprache. Ich kann sie nicht entziffern.“
„Wieso hat man sie an die Wände und an die Decken gemalt?“, fragte Felicitas Ailina.
Doch es war Ituma, die ihr antwortete. „Damit wir nicht vergessen, wofür wir kämpfen“, sagte sie knapp.
Nun streckte auch Felicitas zögernd die Hand aus und fuhr die geheimnisvollen Linien mit dem Finger nach. Die Steine fühlten sich rau an und kalt.
Erst jetzt fiel Felicitas auf, wie ruhig es um sie herum war. Keiner der anderen Jugendlichen sagte ein Wort, sogar Jessy war still. Nur ihre Schritte hallten unheimlich laut in dem mit Fackeln beleuchteten Gang wider.
Verstohlen musterte Felicitas ihre neuen Klassenkameraden. Neben Jessy und Ailina befanden sich noch zwei Mädchen in der kleinen Gruppe und drei Jungen. Einer von ihnen hatte einen schwarzen Wuschelkopf und blaue Augen. Seine Hände hatte er in den Taschen seiner Jeans vergraben, während sein Blick an den Wänden entlangwanderte. Die anderen beiden hatten braune Haare, in die sich einer eine grüne Strähne hatte färben lassen. Als hätte er Felicitas' Blick bemerkt, drehte er sich auf einmal um und lächelte. Ein zitterndes, gezwungenes Lächeln.
„Sie wollen genauso wenig hier sein wie ich!“, schoss es Felicitas durch den Kopf, bevor sie eines der Mädchen näher betrachtete. Es hatte eine hüftlange, blonde Mähne und trug hohe Stiefel, deren Absätze bei jedem Schritt klackerten. Dazu eine Röhrenjeans und ein eng anliegendes, blaues Top, über das es eine Weste gezogen hatte. Das andere Mädchen erschien wie das genaue Gegenteil der Blonden. Es hatte kurze, braune Haare und ging ein wenig gebückt, als hätte es Angst, zu sehr aufzufallen. Felicitas musterte es genauer. Wie alt es wohl war? Auf jeden Fall nicht über vierzehn ...
„Wartet.“ Itumas Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Die Lehrerin war vor einer dunklen Tür stehen geblieben und führte die Schüler in den kleinen, gemütlichen Raum dahinter. An der Wand prasselte ein Kaminfeuer und der Boden war mit weichen Teppichen ausgelegt. In der Mitte des Raumes stand ein Kreis aus Stühlen.
„Nehmt Platz“, forderte Ituma sie auf. „Ich freue mich, dass ihr alle hier seid“, erklärte sie, als sich alle gesetzt hatten. Sie ließ ihren Blick von einem Schüler zum nächsten schweifen. „Julia, nicht wahr?“, fragte sie die Blonde plötzlich.
„July“, korrigierte diese sie knapp.
Ituma nickte. „Und du bist Christiane.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Das Mädchen mit den kurzen, braunen Haaren nickte und sah die Lehrerin aus ihren großen, grünen Augen unsicher an.
„Jessy.“ Itumas Blick wanderte weiter. „Felicitas. Ailina.“
Alle drei nickten.
„Alex“, wandte sie sich an den Jungen mit dem schwarzen Wuschelkopf.
„Ja“, sagte Alex etwas zu laut.
Jessy kicherte.
„Und ihr seid ... Simon und Leonard?“ Ituma blickte die beiden Jungen mit den braunen Haaren an. Erst jetzt fiel Felicitas auf, wie ähnlich sie sich sahen. Hätte einer von ihnen nicht eine grüne Strähne in den Haaren und ein Piercing in der rechten Augenbraue gehabt, sogar identisch.
„Leonard und Simon“, verbesserte der ohne Piercing ruhig.
„Leo“, betonte der andere. Ituma nickte und wirkte dabei fast ein wenig hilflos. Dann trat sie einige Schritte zurück, sodass sie alle Schüler gut ansehen konnte.
„Ihr alle werdet nun ein neues Leben beginnen. Ein gefährliches Leben. Und ein fantastisches, magisches Leben. Ein Leben, in dem es darauf ankommt, wie viel ihr gelernt habt, wie gut ihr mit euren Gaben umgehen könnt. Enapay hat mich gebeten, euch ein wenig in die Legende der Wandler einzuführen, und ich möchte gleich damit beginnen.“
Ituma schritt um den Kreis aus Stühlen herum, das Geräusch ihrer Schritte wurde von dem dicken Teppich gedämpft.
„Vor langer Zeit lebten auf der Erde allerhand magische Geschöpfe. Einhörner zum Beispiel. Und Drachen. Die Menschen verehrten sie wie Götter, und so lebten diese vielen unterschiedlichen Geschöpfe lange friedlich miteinander. Doch die Zeiten änderten sich. Nichts besteht ewig. Weder Freundschaft noch Feindschaft.“ Ituma hielt kurz inne, den Blick starr an die Wand gerichtet. Doch schließlich fing sie sich wieder und setzte ihre Erzählung fort: „Irgendwann begannen die Menschen, Jagd auf die Einhörner zu machen, um an ihre wertvollen Hörner zu kommen. Und sie versuchten die Drachen zu töten, aus Angst, diese könnten ihnen etwas antun. Auf einmal waren die Jahre des Friedens vergessen. Die Menschen wollten die Erde für sich allein, sie waren besessen von Machtgier und Hass. Die Drachen sahen keinen anderen Ausweg mehr, als mithilfe ihrer Magie eine neue, eine eigene Welt zu erschaffen. Dafür benötigten sie eine unvorstellbar große Menge Energie. Um diese Energie freizusetzen, vereinigten sich die Drachen in einem Körper und bündelten so ihre Kräfte.
Sie erschufen das Land der Träume und herrschten in der Gestalt des Drachen Etu über ihre Welt. Aber schon bald merkten sie, dass die Menschen sich mit ihrer Machtgier und ihrem Hass auch selbst zerstören würden. Und so sandten sie uns aus – die Wandler. Unsere Aufgabe ist es, den Menschen die Augen zu öffnen und sie dazu zu bringen, wieder an die Fantasie zu glauben und sich gegenseitig zu respektieren. Sich von Verstand und Nächstenliebe leiten zu lassen anstelle von Machtgier und Hass. Damit wir dies verwirklichen können, statteten sie uns mit besonderen Gaben aus: Wir lernten, die Drei Ebenen zu verstehen und sie zu beherrschen. Die Drei Ebenen sind Materie, Gefühl und Traum. Mit unseren Fähigkeiten können wir zum Beispiel die Gefühle eines anderen Menschen wahrnehmen. Wir können Gegenstände aus dem Nichts erschaffen und die Träume von Menschen ohne ihr Wissen verändern. Aber wir dürfen diese Gaben nie für unseren persönlichen Vorteil nutzen! Nur für das Wohl der Menschen und der