Die Chroniken der Wandler. Laura Schmolke

Die Chroniken der Wandler - Laura Schmolke


Скачать книгу
erstreckte sich ein Wald, der von der Sonne in gleißendes Licht getaucht wurde. Felicitas musste die Augen zusammenkneifen, um nicht geblendet zu werden.

      Sie spürte, wie Misae eine enge Kurve beschrieb und dann noch tiefer glitt. Als sie neugierig blinzelte, sah sie vor ihnen zwischen den Bäumen die Türme eines kleinen Schlosses emporragen. Die Wände waren braun und rissig, es schien, als sei es seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt worden. Und trotzdem war es von einer merkwürdigen Aura umgeben, die Felicitas sofort in ihren Bann zog. Sie spürte, dass irgendetwas mit dem alten Gemäuer nicht stimmte, dass es irgendein Geheimnis barg.

      „Es ist die Schule“, murmelte sie leise zu sich selbst.

      „Ja.“ Sie hörte, dass Enapay lächelte.

      Immer weiter flog Misae auf das Schloss zu, bis sie schließlich direkt darüber schwebten. Jetzt bemerkte Felicitas auch, dass es auf einer großen Lichtung erbaut worden war, am Ufer eines kleinen Sees. Unwillkürlich dachte sie an Etu und an den spiegelglatten See, den sie in ihrem Traum besucht hatte. Hatte diese Schule etwas mit dem Ort in ihrem Traum zu tun?

      Sie wollte Enapay gerade fragen, als Misae lautlos landete.

      Enapay glitt von ihrem Rücken.

      „Das wird für die nächste Zeit dein Zuhause sein.“ Er deutete auf das Schloss.

      „Mein Zuhause“, dachte Felicitas und eine tiefe Traurigkeit überkam sie, „mein neues Zuhause.“

      Schweigend folgte sie Enapay und Misae über die taufeuchte Wiese hinunter zum See. Das Licht der Sonne ließ die kleinen Wellen glitzern und färbte die Wolken am Himmel rosa. Eigentlich war es ganz schön hier. Neugierig betrachtete Felicitas das Schloss. Von hier aus sah es viel größer aus als aus der Luft. Vier kleine, verzierte Türmchen reckten sich zu jeder Seite des Schlosses in die Höhe und die großen Fensterscheiben waren aus buntem Glas. Es hätte edel wirken können, würden an den Wänden nicht schon der Putz und die Farbe abbröckeln. Ohne zu zögern, schritt Enapay auf das große Eingangstor zu. Er murmelte etwas Unverständliches, woraufhin es lautlos aufschwang. Staunend betrat Felicitas hinter ihm den geräumigen Innenhof.

      Eine große Rasenfläche breitete sich vor ihnen aus. Um sie herum erhoben sich die Mauern des Schlosses und nur hinter vereinzelten Fenstern brannte schon Licht.

      „Danke für deine Hilfe.“ Enapay verneigte sich förmlich vor Misae.

      „Es war mir eine Ehre“, antwortete der Nanook Dyami.

      „Komm mit, ich werde dich gleich auf dein Zimmer bringen.“ Enapay drehte sich um und steuerte über die Wiese hinweg auf eine kleine, unscheinbare Tür zu.

      Als Felicitas zögerte, stupste Misae sie sanft mit der Schnauze an. „Hab keine Angst, Felicitas.“

      „Ich habe keine Angst“, murmelte sie und beeilte sich, Enapay zu folgen.

      „Ich habe schon viele Wandler gesehen, Felicitas Wilara, aber darunter keinen einzigen mit solchen Fähigkeiten wie den deinen. Pass auf, dass du nicht vom Weg abkommst, denn du wirst unser aller Schicksal bestimmen!“

      Misaes Stimme klang noch einmal in ihrem Kopf, laut und deutlich. Doch als sie sich zu ihr umdrehte, war sie verschwunden.

      „Felicitas!“, rief Enapay und sie schloss eilig zu ihm auf.

      Hinter der unscheinbaren Tür verbarg sich eine vollkommen andere Welt. Staunend betrachtete Felicitas den mit Teppichen ausgelegten Fußboden und die hölzerne Treppe, die nach oben führte. Fackeln hingen an den Wänden und an der gegenüberliegenden Seite prasselte ein Kaminfeuer.

      Ein leises Lächeln huschte über Felicitas' Gesicht. Sie hatte das Gefühl, um Jahre zurückversetzt zu sein. Das hier glich eher einer alten Burg im Mittelalter als einem halb verfallenen Schloss in einer Welt voller Technik und Industrie.

      „Gefällt es dir?“, fragte Enapay.

      Überrascht fuhr Felicitas herum. Für einen kurzen Augenblick hatte sie Enapay ganz vergessen.

      „Äh ... ja“, stammelte sie und starrte den Mann an, der auf einmal vor ihr stand. Enapay hatte die Kapuze zurückgeschoben und erst jetzt konnte Felicitas erkennen, wie alt er eigentlich war. Sein Gesicht war von Falten durchzogen und sein Haar schlohweiß. Doch seine hellen, blauen Augen leuchteten noch immer wie die eines Kindes: voller Kraft und Tatendrang.

      „Du wirst dir ein Zimmer mit Ailina teilen“, erklärte Enapay und begann, die Treppe hinaufzusteigen. Zielsicher führte er Felicitas durch die verlassenen Korridore des Schlosses.

      „Das hier sind die Unterrichtsräume“, verkündete er und deutete den Gang entlang, „und dort hinten geht es zu den Schlafräumen. Du darfst dich frei im Schloss bewegen, doch die Kellergewölbe sind für dich, genau wie für alle anderen Schüler, tabu. Erst mit deiner Namenszeremonie und somit der Erhebung in den Lehrer- beziehungsweise Kriegerstatus bist du ein voll ausgebildeter Wandler und darfst den geheimen Ritualen beiwohnen.“

      „Aha“, machte Felicitas, weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte.

      Namenszeremonien, geheime Rituale, verbotene Kellergewölbe ... wo war sie hier nur hineingeraten?

      „So, da wären wir.“ Enapay blieb vor einer dunklen, hölzernen Tür stehen, die genauso aussah wie jede andere dunkle, hölzerne Tür in diesem Gang. „Ich wünsche einen angenehmen Schlaf.“ Mit einem freundlichen Nicken ließ er sie zurück. Felicitas beobachtete noch, wie er würdevoll den Gang entlangschritt, bis er hinter einer Biegung verschwand. Auf einmal war sie wirklich allein. Sie spielte mit dem Gedanken, Enapay hinterherzurufen, er solle zurückkommen, ließ es dann aber bleiben.

      Das Sonnenlicht, das durch die bunten Glasscheiben schien, ließ farbenfrohe Lichtflecke auf dem Boden tanzen, doch Felicitas starrte sie an, ohne sie wirklich zu sehen. Um sie herum war es vollkommen still. Auf einmal begann sie, unkontrolliert zu zittern. Worauf hatte sie sich nur eingelassen, als sie Enapay einfach gefolgt war? Sie wusste doch gar nicht, was sie hier erwartete!

      Zögernd streckte sie die Hand aus und klopfte. Wenn sie hier stehen blieb, würde sie es nie erfahren. Dann wartete sie. Als sich im Zimmer nichts rührte, umfasste sie die Türklinke.

      Die Tür quietschte leise, als Felicitas sie aufdrückte und in das Zimmer dahinter spähte. Es war klein, mit nur einem einzigen Fenster und zwei Betten an der hinteren Wand. Auf einem davon lag ein Mädchen. Es war hübsch, hatte langes, blondes, fast weißes Haar und ein Lächeln zierte sein Gesicht. Es sah glücklich aus. Zumindest, wenn es schlief.

      Leise schlich Felicitas sich in das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Erst jetzt fielen ihr die beiden hohen Schränke an den Seiten und der kleine Schreibtisch, der direkt links neben der Tür stand, auf. Leise stellte sie ihre Tasche neben dem Kopfende des noch freien Bettes ab. Obwohl sie sich gerne hingelegt hätte, zögerte sie. Das Bettzeug war ganz weiß und sowohl die Decke als auch das Kopfkissen waren faltenlos.

      „Fast wie in einem Krankenhaus“, dachte Felicitas auf einmal, „in das die kranken Kinder eingeliefert werden, die fremde Gefühle spüren können und vermutlich bald verrückt werden.“

      Sie nahm den Raum noch einmal genauer in Augenschein. Sie musste sich eingestehen, dass er sonst relativ wenig mit einem sauberen und nach Desinfektionsmitteln riechenden Krankenzimmer gemeinsam hatte. Der Boden war mit einem hellen, orangefarbenen Teppich ausgelegt und auf dem kleinen Schreibtisch lagen unordentlich mehrere Blätter Papier verteilt. Sogar in die dunklen Schränke waren feine Muster eingearbeitet, die Felicitas auf Anhieb gar nicht aufgefallen waren. Nur die Wände wirkten genauso traurig und farblos wie das Bettzeug. Und die kahle Glühbirne, die von der Decke baumelte.

      Felicitas seufzte leise und legte sich schließlich doch hin. Fast sofort fielen ihr die Augen zu und sie sank in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

      *

      Die Legende der Wandler


Скачать книгу