Die Chroniken der Wandler. Laura Schmolke
antwortete: „Ja, ich glaube Ihnen.“ Plötzlich begann sich ihre Umgebung aufzulösen und Felicitas stürzte in eine endlose Dunkelheit.
***
Als sie die Augen aufschlug, herrschte um sie herum Dunkelheit. Die Gardinen vor ihrem Fenster flatterten im lauen Wind und ein schneller Blick auf ihren Wecker zeigte ihr, dass es zehn vor zwei Uhr in der Nacht war. Trotzdem knipste sie ihre Nachttischlampe an und sah sich im Zimmer um. Nichts bewegte sich. Niemand war hier. Dennoch ließ sie der seltsame Traum nicht mehr los.
Unbeabsichtigt fiel ihr Blick auf das Foto, das auf dem Schreibtisch stand. Sie und Sandra vor drei Jahren. Felicitas schloss die Augen und versuchte, sich das Bild möglichst detailliert vorzustellen. Jede Einzelheit. Sandras orangefarbener Bikini, die einzelne, weiße Wolke und das unglaublich blaue Meer.
Beinahe hätte sie laut aufgeschrien, als sie auf einmal ein leichtes Gewicht auf ihrer ausgestreckten Hand spürte. Trotzdem war sie nicht wirklich überrascht, als sie die Augen wieder öffnete und erkannte, dass sie das Foto in der Hand hielt. Nein, nicht das Foto. Nur eine detailgetreue Kopie.
***
„Was siehst du?“ Der große, hagere Mann schritt ungeduldig auf und ab.
„Gar nichts, wenn Ihr nicht endlich still seid!“, fauchte die schwarzhaarige Frau und beugte sich erneut über die silberne Schale.
„Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden?“ Der Mann holte mit der rechten Hand aus, doch die Frau duckte sich routiniert unter dem Schlag hindurch.
„Ich rede mit Euch, wie es mir gefällt, schließlich seid Ihr auf mich angewiesen und nicht andersherum, wenn ich mich richtig entsinne!“
Der Mann ballte die Hände zu Fäusten. Das Schlimme war ja, dass sie recht hatte.
Nur mühsam gelang es ihm, seine Wut zu unterdrücken und ruhig stehen zu bleiben. Er musterte die Frau, versuchte, in ihrem Gesicht irgendwelche Regungen zu entdecken, doch da war nichts. Es schien, als sei sie aus Wachs, still und bewegungslos, während ihre Augen starr auf das Wasser in der Schale gerichtet waren. Die schwarzen Haare fielen ihr lang und glatt über den Rücken.
Eigentlich war sie hübsch. Auf ihre Art. Doch der Mann hatte schon lange nichts mehr für Schönheit übrig.
„Sie hat ihre Kräfte genutzt.“ Die Stimme der Frau riss ihn aus seinen Gedanken. „Enapay war bei ihr.“
„Verdammt!“, presste er zwischen den Zähnen hervor. „Er war mal wieder schneller als ich!“
„Er hat sie nur im Traum besucht, aber morgen Nacht wird er zurückkommen.“
Völlig entkräftet ließ der Mann sich auf einen rot gepolsterten Stuhl sinken. „Scheint so, als hätten sie etwas geahnt“, murmelte er. Lauter fuhr er fort: „Dann gibt es nur noch eine Möglichkeit ...“
„Ihr wisst, dass Enapay die Schule mit einem Bannkreis umgeben hat, der Euch daran hindert, sie zu finden?“
„Natürlich weiß ich das.“
„Wie wollt Ihr dann ...“
Der Mann hob die Hand. „Lass das nur meine Sorge sein, Seherin.“
***
Fassungslos starrte Felicitas auf das Foto. Wie war das möglich? Sie konnte doch nicht wirklich eine ... Wandlerin sein? Das würde dann ja bedeuten, dass die beiden Träume in den letzten Nächten mehr als nur Träume gewesen waren – und dass sie tatsächlich gefährlich war. Aber das Ganze war doch vollkommen unmöglich! Wie konnte ein Mensch auf einmal die Gabe besitzen, Gegenstände aus dem Nichts zu erschaffen? Oder die Gefühle eines anderen zu spüren, als seien sie die eigenen?
Wieder und wieder blinzelte Felicitas und starrte dann erneut auf das Foto in ihrer Hand. Es war immer noch da.
Langsam ließ sie sich zurück auf das Bett sinken. Sie musste noch träumen. Eine andere Erklärung gab es nicht.
Auf einmal überfiel sie wieder diese plötzliche Müdigkeit. Als hätte jemand alle Lebensfreude und Energie aus ihrem Körper gesogen und nur noch eine leere Hülle zurückgelassen. Ohne nachzudenken, schloss Felicitas die Augen und glitt in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
„Felicitas!“ Irgendjemand rüttelte sie heftig an der Schulter. „Felicitas! Felicitas! Wach auf!“
Verschlafen öffnete Felicitas die Augen und sah geradewegs in Sandras besorgtes Gesicht.
„Was ist denn los?“, murmelte sie. „Wieder ein Date?“
Sandra antwortete nicht. Sie musterte ihre große Schwester nur prüfend, als wüsste sie ganz genau, dass irgendetwas nicht stimmte. „Du hast gestern den ganzen Tag geschlafen! Und jetzt immer noch! Ich habe wirklich gedacht ...“ Sie senkte den Blick und musterte konzentriert Felicitas' geblümte Bettdecke.
„Du musst dir keine Sorgen um mich machen.“ Felicitas versuchte, überzeugter zu klingen, als sie sich fühlte. Sie warf einen schnellen Blick auf ihren Wecker und stellte entsetzt fest, dass es bereits Viertel nach eins war. Wie hatte sie nur so lange schlafen können?
Schlagartig fiel ihr Enapay wieder ein und das Foto. Unauffällig beugte sie sich ein wenig vor und suchte den Boden ab. Erleichterung durchflutete sie, als sie das Foto nirgendwo entdecken konnte.
„Suchst du etwas?“, wollte Sandra wissen.
„Ja ... ein Foto.“
„Das hier vielleicht?“ Ihre kleine Schwester stand auf und angelte das Bild vom Schreibtisch. „Es lag auf dem Boden, deswegen habe ich es hochgelegt.“
„Oh nein!“, murmelte Felicitas und starrte auf das Foto, das Sandra ihr entgegenstreckte. Ihr Blick huschte hinüber zum Schreibtisch. Das Original stand noch immer dort. „Es war kein Traum“, schoss es Felicitas durch den Kopf. „Das alles muss wirklich passiert sein ...“
„Ist wirklich alles in Ordnung?“ Sandra wirkte ernsthaft besorgt.
„Ja ... wie war es eigentlich mit Tom?“, bemühte Felicitas sich, das Thema zu wechseln.
Sandra ging darauf ein.
„Ach“, sie verdrehte die Augen, „du weißt doch, wie Jungs so sind. Ich war nicht gut genug für ihn.“
Trotz ihres abfälligen Tons entging Felicitas nicht, dass die Augen ihrer kleinen Schwester feucht wurden.
„Mach dir nichts draus. Irgendwann findest du bestimmt noch den Richtigen.“ Sie beugte sich vor, um Sandra in den Arm zu nehmen, doch als sie ihre kleine Schwester berührte, stürzte wieder eine Welle von Gefühlen auf sie ein. Trauer, Enttäuschung, Schmerz und Zorn. So großer Zorn. Verzweifelt schnappte Felicitas nach Luft und rollte sich auf die Seite, doch es half nichts. Ihr Kopf pochte, die Welt verschwamm vor ihren Augen, löste sich auf in eine Vielzahl bunter, tanzender Punkte.
Kämpfe dagegen an! Lass nicht zu, dass sie dich beherrschen! Die Stimme war plötzlich in ihrem Kopf, laut und klar. Konzentriere dich auf deine eigenen Gefühle!
Felicitas ballte die Hände zu Fäusten, so fest, dass es wehtat. Es sind nicht deine Gefühle! Es sind die von Sandra! Sie gehören nicht zu dir! Stumm wiederholte sie die Sätze. Krampfhaft versuchte sie, sich zu konzentrieren und gegen die Welle aus Gefühlen anzukämpfen, sie zurückzudrängen und zu ersticken.
Nicht wegspülen lassen ... Standhaft bleiben ... Die Stimme in ihrem Kopf war kaum noch zu hören über dem lauten, schmerzhaften Pochen, das jetzt alles andere dominierte.
Plötzlich drang ein schriller, schmerzerfüllter Schrei in ihr Bewusstsein und brachte sie wieder zur Besinnung. Die Gefühle verebbten und auf einmal war alles wieder wie immer. Nach Luft japsend richtete sie sich auf - und erstarrte.
„Sandra?“ Ihre Schwester lag reglos auf dem Boden. „Sandra!“
Felicitas kniete sich neben sie und streckte