Die Chroniken der Wandler. Laura Schmolke

Die Chroniken der Wandler - Laura Schmolke


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      „Felicitas!“, flüsterte Sandra plötzlich.

      „Oh, Sandra! Bin ich froh, dass es dir gut geht! Alles okay?“ Sie hätte ihrer kleinen Schwester gerne dabei geholfen, sich aufzurichten, hatte aber Angst vor dem unvermeidlichen Körperkontakt.

      „Was ist passiert?“, wollte Felicitas leise wissen.

      „Ich ... ich weiß es nicht ...“, murmelte Sandra, „auf einmal war mir so schwindelig und ... dann habe ich keine Luft mehr bekommen ... ich hatte so furchtbare Schmerzen ...“

      Felicitas starrte ihre Schwester nur an. Konnte es wirklich sein, dass sie, Felicitas, ihr diese Schmerzen zugefügt hatte? Konnte es sein, dass sie Sandra fast umgebracht hätte bei dem Versuch, die Gefühle ihrer Schwester zu bekämpfen?

      „Enapay hatte recht“, hauchte Felicitas, „ich bin gefährlich.“

      „Was hast du gesagt?“

      „Nichts. Geht es dir wieder besser?“

      „Ja ...“

      „Vielleicht ist es besser, wenn du dich ein bisschen hinlegst. Ich glaube, die Aufregung gestern war ein bisschen viel für dich.“

      Sandra nickte nur. „Du erzählst Mum doch nichts, oder? Sonst will sie noch, dass ich früher ins Bett gehe.“

      Gegen ihren Willen musste Felicitas lächeln. „Ich erzähle ihr nichts. Versprochen.“

      Sandra erwiderte müde ihr Lächeln, als sie das Zimmer verließ und Felicitas allein ließ. Allein mit ihren Gedanken. Erschöpft ließ sie sich auf ihr Bett fallen.

      Jetzt hatte sie den Beweis. Den Beweis dafür, dass sie gefährlich war, genau, wie Enapay es gesagt hatte.

      Sie konnte Gegenstände aus dem Nichts erschaffen und Sandras Gefühle wahrnehmen. Und sie hatte ihre Schwester verletzt. Hatte ihr furchtbar wehgetan, als sie versucht hatte, ihre Gefühle aus ihrem Körper zu verdrängen.

      Unwillkürlich musste sie an Enapay denken und an sein Angebot, in einer speziellen Schule zu lernen, ihre Fähigkeiten unter Kontrolle zu bekommen. Aber dafür würde sie ihre Familie verlassen müssen.

      „Warum, verdammt noch mal?“ Auf einmal hielt sie es nicht mehr aus. „Was geht hier vor? Und warum ich?“ Felicitas kannte die Antworten nicht. Wahrscheinlich kannte sie keiner. Außer Enapay. Aber woher wollte sie wissen, dass er überhaupt existierte? Sie hatte ihn bisher nur in einem Traum getroffen.

      „Enapay?“, brüllte Felicitas. „Enapay, falls Sie wirklich existieren, dann kommen Sie jetzt sofort hierher!“

      Plötzlich öffnete sich ihre Tür. Für einen kurzen Augenblick dachte sie tatsächlich, es wäre Enapay, doch es war nur Sandra. „Kannst du bitte aufhören, so herumzuschreien? Ich versuche zu schlafen.“

      „Ja ... natürlich. Tut mir leid.“ Felicitas konnte ihrer kleinen Schwester nicht in die Augen sehen.

      „Bist du sicher, dass es dir gut geht?“, wollte Sandra besorgt wissen.

      „Ganz sicher. Mach dir um mich keine Sorgen.“

      Sandra sah ihre große Schwester lange an. Felicitas war noch nie gut im Lügen gewesen. Aber wenn sie nicht darüber reden wollte, hatte es keinen Sinn, weiter nachzufragen. Also schloss Sandra leise die Tür.

      ***

      Felicitas schreckte hoch. Im Zimmer war es dunkel und still. Sie hörte nur das Ticken der Wanduhr. War sie etwa schon wieder eingeschlafen?

      „Felicitas.“

      Sie schrie erschrocken auf, als sie die dunkle Gestalt bemerkte, die nahe der Tür stand.

      „Enapay“, sagte sie dann leise.

      Seltsamerweise war sie nicht überrascht. Nein, vielmehr schien es, als hätte sie ihn schon erwartet. Als hätte sie schon seit Langem gewusst, dass er kommen würde.

      *

      Nanook Dyami

      Ich sehe mich um, immer wieder. Erwarte, dass in den Schatten jemand steht, jemand auf mich lauert. Unendlich viele Augenpaare beobachten mich, verfolgen jeden meiner Schritte. Warten auf den richtigen Augenblick, um aus der Dunkelheit hervorzuspringen, um mich zu packen. Niemand würde mein Schreien hören. Niemand würde mir helfen. Denn ich bin alleine.

      „Komm mit mir.“ Genau wie bei ihrer letzten Begegnung war Enapay in einen langen, schwarzen Mantel gehüllt und eine Kapuze verdeckte sein Gesicht. Nur seine hellen, blauen Augen leuchteten aus dem Schatten hervor.

      „Ich kann nicht.“ Felicitas' Stimme zitterte. „Mein Platz ist hier, bei meiner Familie.“

      „Nicht, wenn du sie durch deine Gaben in Gefahr bringst“, flüsterte Enapay leise und eindringlich. „Du weißt, dass du es warst, die Sandra diese Schmerzen zugefügt hat, nicht wahr? Du wolltest es nicht, du hast es noch nicht einmal bemerkt. Und das macht dich so gefährlich: Du hast deine Fähigkeiten noch nicht unter Kontrolle!“

      „Ich will diese Fähigkeiten nicht! Niemand hat mich gefragt!“

      „Man kann sich sein Schicksal nicht aussuchen.“

      Felicitas lachte düster auf. „Sie verlangen also von mir, meine Familie und meine Freunde, mein ganzes Leben hinter mir zu lassen und mit Ihnen zu irgendeiner Schule zu gehen, von der ich noch nicht einmal sicher weiß, ob sie existiert, um dort irgendwelche Fähigkeiten auszubilden, mit denen ich andere Menschen töten könnte?“

      Enapay nickte. „Du hast keine Wahl.“

      „Natürlich habe ich eine Wahl!“, zischte sie.

      „Wenn du nicht mit mir kommen willst, wieso hast du mich dann heute Nachmittag gerufen?“, wollte Enapay wissen.

      Felicitas zuckte zusammen. Woher wusste er das? „Ich verlange Antworten“, erklärte sie schließlich kühl.

      „Dann stell deine Fragen.“ Enapay sah sie abwartend an.

      „Wieso kann ich Sandra verletzen, ohne es zu wollen?“, wollte sie wissen.

      „Das hängt mit deiner Gabe zusammen, die Zweite Ebene zu beherrschen. Du spürst die Gefühle anderer Menschen. Indem du gegen Sandras Gefühle gekämpft hast, hast du ihr Schmerzen zugefügt. Würde ich dir jetzt jede Einzelheit erklären, würde das zu lange dauern. In der Schule wird man dir beibringen, mit dieser Gabe umzugehen.“

      Felicitas ging nicht darauf ein.

      „Kann ich diese Fähigkeiten unterdrücken?“

      „Wenn du sie besser beherrschst, ja. Aber du kannst sie nie ganz ausschalten. Sie sind ein Teil von dir.“

      „Wieso bin ich immer so müde, nachdem ich meine Fähigkeiten eingesetzt habe?“

      „Um Materie zu bündeln oder die Gefühle anderer Menschen zu spüren, benötigst du Energie. In der Schule könntest du lernen, deinen Körper an den Energieverbrauch zu gewöhnen.“

      „Aha“, meinte Felicitas tonlos.

      Enapay sah sie lange an, aus seinen hellen, blauen Augen.

      „Pack deine Sachen zusammen, Felicitas.“ Auf einmal klang er müde. „Wir müssen die Stadt verlassen haben, bevor die Dämmerung anbricht.“

      „Eine Frage habe ich noch.“ Sie musterte Enapay, versuchte unter der Kapuze die Konturen seines Gesichts zu erahnen. „Wieso ich?“, fragte sie dann leise.

      Enapay schwieg lange. „Ich weiß es nicht“, bekannte er schließlich.

      Felicitas nickte langsam.

      Sie wollte nicht weg von hier. Wollte nicht auf diese Schule, von der Enapay


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