Die Chroniken der Wandler. Laura Schmolke

Die Chroniken der Wandler - Laura Schmolke


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soll, es aber nicht mehr schafft, die ewige Dunkelheit zu vertreiben?

      Als Felicitas blinzelte, war das gesamte Zimmer in ein grelles, orangefarbenes Licht getaucht. Einen kurzen Augenblick lang dachte sie, dass sie noch träumte. „Hast du gut geschlafen?“, fragte eine sanfte Stimme vom anderen Ende des Zimmers.

      „Sandra? Wie spät ist es?“, murmelte Felicitas verschlafen.

      „Zehn vor neun.“

      „Ach so.“ Felicitas schloss die Augen wieder. Es waren Ferien, da konnte sie ruhig noch ein wenig länger schlafen.

      „Zehn vor neun abends.“

      Erst jetzt fiel ihr auf, dass die Stimme gar nicht zu Sandra gehörte. Mit einem Ruck fuhr sie hoch und blickte geradewegs in die blauen Augen eines blonden Mädchens.

      „Wer ...“, setzte sie an, als ihr schlagartig alles wieder einfiel. Der Traum. Ihre Fähigkeiten. Misae. Enapay.

      „Ailina“, beantwortete das Mädchen ihre unausgesprochene Frage. „Und du musst Felicitas sein.“

      „Ja. Felicitas. Ja“, murmelte Felicitas ein wenig verwirrt. „Hallo Ailina.“

      Ailina lächelte. Es wirkte glücklich und traurig zugleich.

      Irgendetwas an Ailina war anders als an anderen Menschen, das spürte Felicitas auf einmal. Aber was? Sie musterte ihre neue Zimmergenossin aufmerksam, konnte jedoch nichts entdecken, was sie irgendwie von anderen Mädchen in ihrem Alter unterschied.

      „Wann hat er dich geholt?“, fragte Ailina auf einmal mit ihrer sanften Stimme. „Zu mir kam er mitten in der Nacht, als alle schliefen. Er hat gesagt, wir würden mit dem Unterricht beginnen, sobald alle da wären. Du warst die Letzte.“

      Felicitas hatte Schwierigkeiten, Ailina zu folgen. „Äh ... die Letzte wovon?“

      „Die Letzte, die er geholt hat.“

      „Aha.“

      „Also haben wir heute Nacht unsere ersten Unterrichtsstunden.“

      „Heute Nacht?“

      „Wandler sind nachtaktiv. Jessy hat es mir erzählt.“

      Felicitas wollte gerade nachfragen, wer Jessy war, als Ailina aufstand.

      „Du solltest dich umziehen. Es gibt bald Frühstück.“

      Frühstück? Felicitas stand auf und warf einen Blick aus dem Fenster. Die untergehende Sonne tauchte den Himmel in flammendes Orange und ließ die Wolken hell erstrahlen. Nach Frühstück sah das Ganze nicht aus. Eher nach Abendessen.

      Felicitas seufzte und durchwühlte ihre Sporttasche nach Kleidungsstücken.

      „Ist das Sandra?“ Plötzlich stand Ailina neben ihr und sah auf das Foto, das Felicitas auf ihr Bett gelegt hatte.

      Felicitas hielt inne und starrte das Foto einige Sekunden lang an. „Ja“, sagte sie schließlich.

      „Sie ist deine Schwester, nicht wahr? Ihr seht euch sehr ähnlich.“

      „Nein“, flüsterte Felicitas, ohne den Blick von dem Foto abzuwenden. „Sandra hat braunes Haar, ich habe schwarzes. Sie hat Sommersprossen und einen viel schmaleren Mund.“

      „Aber ihr habt die gleichen Augen“, bemerkte Ailina.

      Felicitas nickte langsam. Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Sandra. Ihre Schwester würde sie am meisten vermissen. Sandra, die spontane, ungeschickte, tollpatschige Sandra, die das Leben auf ihre ganz eigene Art sah.

      „Was habe ich mir nur dabei gedacht, sie alleine zurückzulassen?“, fragte Felicitas leise.

      Ailina antwortete nicht. Was hätte sie auch sagen sollen? Also gab Felicitas sich einen Ruck, angelte ein paar Klamotten aus der Tasche und zog sich um.

      Als Felicitas Ailina durch die Gänge des Schlosses folgte, fiel ihr auf, wie anders hier alles bei Nacht wirkte. Die Sonne war bereits untergegangen und nur die Fackeln warfen noch ihre flackernden, tanzenden Lichter an die Wände. Jetzt konnte sie auch die Zeichnungen sehen. Dünne, schimmernde Linien wanden sich an den grauen Steinen entlang bis hoch an die Decke und vereinigten sich zu einem geheimnisvollen, magischen Muster.

      Sie liefen durch die leeren Korridore des Schlosses, eine Treppe hinunter, eine andere wieder hinauf und dann wieder durch etliche Gänge.

      „Jetzt ist es nicht mehr weit“, meinte Ailina auf einmal.

      „Ein Glück.“ Felicitas glaubte nicht, dass sie sich in diesem Schloss jemals alleine zurechtfinden würde.

      Schon von Weitem konnte sie das Stimmengewirr und Gelächter hören, das in den leeren Korridoren seltsam verzerrt widerhallte.

      Schließlich standen sie vor einer weit geöffneten hölzernen Flügeltür, in die verschiedene feine Muster eingearbeitet waren. Dahinter erstreckte sich ein großer Saal, in dem drei lange Tische standen. Jeder Einzelne von ihnen war voll besetzt.

      „So viele Schüler gibt es hier?“, fragte Felicitas erstaunt.

      „Ja. Ungefähr sechzig“, erklärte Ailina. Dann deutete sie unauffällig zu einem weiteren Tisch, der ein wenig höher als die übrigen an der Stirnseite der Halle stand. „Dort sitzen die Lehrer.“

      Felicitas entdeckte Enapay an dem Tisch. Er unterhielt sich mit einem mindestens ebenso alten Mann neben ihm, doch plötzlich hob er den Kopf und sah sie direkt an. Er runzelte die Stirn, als würde ihn etwas wundern, doch dann lächelte er. „Komm.“ Ailina ging voraus durch die Halle und steuerte auf den hintersten Tisch zu.

      „Hi Ailina!“, rief ein rothaariges Mädchen plötzlich.

      „Hallo Jessy.“ Jessy rutschte ein wenig zur Seite, sodass neben ihr genug Platz für Ailina frei wurde.

      „Äh ...“, setzte Felicitas an, um die Freundinnen auf sich aufmerksam zu machen, doch Ailina hatte sie nicht vergessen.

      „Das ist Felicitas“, erklärte sie.

      „Hallo Felicitas!“ Zu Felicitas Überraschung stand Jessy auf und kam auf sie zu. Anscheinend wollte das Mädchen sie umarmen. Felicitas zuckte zurück. Sie hatte zu viel Angst vor dem Körperkontakt zu einem anderen Menschen.

      „Oh, natürlich. Diese blöde Gabe. Die vergesse ich aber auch immer wieder.“ Jessy lächelte entschuldigend und Felicitas kam nicht darum herum, sie zu mögen. Für ihre spontane Art und ihre Freundlichkeit. Und vielleicht auch, weil Jessy sie ein wenig an Sandra erinnerte.

      „Macht euch nicht so breit!“, rief Jessy. Nachdem auf der Bank ein wenig gerutscht worden war, passte Felicitas noch zwischen Ailina und Jessy. „Bist du auch auf Misae geflogen?“, fragte Jessy, sobald Felicitas sich gesetzt hatte. „Es ist toll, nicht wahr? Dieses Gefühl, wenn man in den Himmel hinaufschießt ...“

      Plötzlich wurde es still im Saal und Jessy verstummte. Alle Augen richteten sich erwartungsvoll auf Enapay, der sich erhoben hatte.

      „Guten Abend alle zusammen“, sagte er höflich. „Ich freue mich, euch mitteilen zu dürfen, dass unsere Schule wieder Zuwachs bekommen hat. Insgesamt acht neue Schülerinnen und Schüler.“

      Enapays Blick schweifte durch den Saal. „Sie werden heute Nacht mit dem Unterricht beginnen.“

      Auf einmal füllte aufgeregtes Stimmengewirr die Halle.

      „Das wurde aber auch Zeit!“, rief Jessy und ihre Augen leuchteten, als sie sich an Felicitas und Ailina wandte. „Stellt euch mal vor, wir werden zu Wandlern ausgebildet! Wir lernen, Gegenstände aus dem Nichts zu erschaffen! Und Gefühle von anderen Menschen wahrzunehmen und ...“

      „Ruhe!“ Enapays Stimme erfüllte die Halle. „Ich bitte die Neuen, nach dem Essen mit Ituma“, er deutete auf die dunkelhaarige Frau neben sich, „mitzugehen. Sie wird euch


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