Die Chroniken der Wandler. Laura Schmolke
ihr um den Hals. „Ich wüsste echt nicht, was ich ohne dich machen würde!“
Dann erst stand sie auf, drehte sich ein paarmal vor dem großen Spiegel und rannte schließlich aus dem Zimmer. Ein dumpfer Schlag folgte. „Sandra!“ Felicitas stürzte aus dem Zimmer.
„Es ist ... alles in Ordnung!“ Sandra rappelte sich gerade wieder auf und polterte die Treppe hinunter.
„Vielleicht solltest du lieber deine Ballerinas anziehen!“, rief sie ihrer kleinen Schwester nach. Die Haustür fiel ins Schloss.
„Als meine High Heels“, murmelte Felicitas noch, dann ließ sie sich wieder auf ihr Bett fallen. Auf einmal fühlte sie sich seltsam erschöpft. Ohne dass sie es wirklich merkte, schweiften ihre Gedanken ab und sie sah wieder den kleinen See vor sich und den Drachen. Er hatte von Wandlern gesprochen. Was waren Wandler?
„Es war nur ein Traum, Felicitas!“, versuchte sie sich selbst zu beruhigen, doch es wollte nicht funktionieren. Was war eben mit ihr los gewesen, als sie all diese Gefühle gespürt hatte, die nicht die ihren gewesen waren? Hätte sie nicht so viel Angst gehabt, hätte sie wahrscheinlich über sich selbst gelacht. Fing sie jetzt schon an, verrückt zu werden? Mit siebzehn Jahren? War das nicht ein bisschen früh?
Unruhig wälzte sie sich in ihrem Bett herum und starrte an die Decke. Irgendwann fielen ihr die Augen zu.
***
Felicitas schreckte hoch. Im Zimmer war es dunkel und still. Sie hörte nur das Ticken der Wanduhr.
„Felicitas.“ Sie schrie erschrocken auf, als sie die dunkle Gestalt bemerkte, die nahe der Tür stand.
„Du musst keine Angst vor mir haben.“ Langsam kam sie auf Felicitas zu. „Mein Name ist Enapay und ich bin wie du: ein Wandler.“
Immer weiter kroch Felicitas zurück, bis sie mit dem Rücken an die Wand stieß.
„Ich bin keine Wandlerin“, stieß sie zwischen den Zähnen hervor, „Sie müssen sich irren!“
„Wieso bist du dann Etu, dem goldenen Drachen, in deinen Träumen begegnet? Und wieso konntest du Sandras Gefühle spüren, als wären es deine eigenen? Ich will es dir sagen: weil du anders bist als die anderen Menschen. Du bist eine von uns. Eine Wandlerin.“
„Das kann nicht sein!“, murmelte Felicitas immer wieder.
„Hier kannst du nicht mehr bleiben. Komm mit mir!“ Als Enapay weiter auf sie zukam, bemerkte sie, dass er ein langes, schwarzes Gewand trug. Eine Kapuze verbarg sein Gesicht.
„Wer sind Sie?“, fragte sie leise.
Enapay antwortete nicht sofort.
„Ich bin ein Wandler, genau wie du“, sagte er schließlich, „und einer der fünf Meister.“
„Der was?“
„Es gibt fünf Meister, mehrere Lehrer und Krieger und jedes Jahr einige Schüler. Du wirst eine von ihnen sein. Sie bekommen ihre Kräfte meist in ihren Träumen, verliehen von Etu, dem goldenen Drachen. Er hat dir doch bestimmt schon von uns erzählt, oder etwa nicht?“
„Doch“, murmelte Felicitas, „er hat etwas von Kräften gesagt“, erinnerte sie sich. „Und davon, dass es unsere Aufgabe sei, den Menschen die Augen zu öffnen.“
„Genau.“ Enapay nickte. „Vor langer Zeit vertrieben die Menschen die Drachen aus ihrer Welt, weil sie nicht mehr an die Fantasie glaubten. Die Drachen vereinigten sich in einem Körper und erschufen aus ihren magischen Kräften eine neue Welt: das Land der Träume. Dort warten sie, gefangen im Körper des Drachen Etu, auf ihre Rückkehr. Es ist unsere Aufgabe, den Menschen die Augen zu öffnen.“
„Das ist doch Quatsch.“ Felicitas lachte leise. „Es gibt weder Wandler noch Drachen.“ Das alles hier war nur ein Traum. Tief in ihrem Inneren wusste sie das.
„Dann erklär mir doch mal, wieso du Sandras Gefühle so deutlich gespürt hast.“
„Das ... das ...“ Felicitas brach ab. „Sie ist meine Schwester!“, fuhr sie Enapay schließlich an. „Natürlich weiß ich, wie sie sich fühlt.“
Enapay kam weiter auf sie zu und ließ sich auf die Kante ihres Bettes sinken. „Sei nicht albern, Felicitas. Du weißt, dass ich recht habe.“ Als Felicitas nur trotzig den Kopf schüttelte, seufzte Enapay.
„Es war wie ein Sturm, nicht wahr?“
Seine Stimme klang sanft und ruhig, als spräche er mit einem kleinen Kind. „Ein Sturm aus Gefühlen, der urplötzlich in dir losbrach. Du wusstest, dass diese Gefühle nicht zu dir gehören, konntest sie in diesem Moment allerdings nicht von deinen eigenen unterscheiden. Es tat weh. Du bekamst Kopfschmerzen und vor deinen Augen verschwamm alles. Dann hörte es wieder auf. So plötzlich, wie es begonnen hatte. Und du fühltest dich nur noch unendlich müde.“
„Woher ...“, murmelte Felicitas leise, doch Enapay unterbrach sie.
„Woher ich das weiß? Weil ich das alles unzählige Male selbst durchgemacht habe. Das ist unser Schicksal als Wandler. Wir besitzen die Gabe, die Drei Ebenen Materie, Gefühl und Traum nicht nur zu verstehen, sondern auch zu beherrschen. Aber sie zu kontrollieren, erfordert viel Übung. Felicitas“, er beugte sich zu ihr vor, „deine Gaben sind gefährlich, solange du sie noch nicht richtig einsetzen kannst. Sowohl für dich als auch für deine Mitmenschen.“
Felicitas zögerte. Sie wusste, dass Enapay zumindest teilweise die Wahrheit sprach. Schließlich hatte sie Etu in ihren Träumen getroffen und sie hatte Sandras Gefühle gespürt, als wären es ihre eigenen. Und zwar in derselben Weise, wie Enapay es beschrieben hatte.
„Du kannst die Drei Ebenen manipulieren, die Träume und Gefühle der Menschen. Und die Materie. Du kannst Gegenstände aus dem Nichts erschaffen, und solange du deine Gaben noch nicht unter Kontrolle hast, bist du gefährlich, Felicitas!“
„Ich bin gefährlich?“ Felicitas‘ Stimme zitterte.
Er nickte. „Ja, solange du deine Fähigkeiten nicht unter Kontrolle hast. Ja.“
„Was soll ich tun?“, fragte Felicitas.
„Komm mit mir. Es gibt eine Schule, an der du lernen kannst, deine Fähigkeiten zu beherrschen.“
„Aber dann müsste ich meine Familie verlassen.“
Enapay sah sie an und erst jetzt fiel ihr auf, wie strahlend blau seine Augen waren. „Ja. Das ist der Preis für deine Gaben. Und die beste Möglichkeit, die Menschen, die du liebst, zu beschützen.“
„Das ist doch Unsinn!“ Plötzlich schrie Felicitas. Sie wusste selbst nicht, woher diese plötzliche Wut kam. „Es gibt keine Drachen und auch keine Wandler!“
Enapay sah sie lange an. „Ich werde es dir beweisen“, meinte er schließlich und sah sich neugierig in ihrem Zimmer um. „Was in diesem Zimmer ist dir besonders wichtig?“
Unbewusst sah sie auf das Foto, das auf ihrem Schreibtisch stand. Darauf waren Sandra und sie zu sehen, bei ihrem letzten Urlaub vor drei Jahren.
Enapay folgte ihrem Blick und lächelte. „Und jetzt schließe deine Augen“, wies er sie an. Felicitas tat, wie ihr geheißen.
„Strecke die Hand aus und versuchte, dir das Bild vorzustellen. Denke an jedes kleine Detail und ...“
Felicitas hörte schon längst nicht mehr zu. Zu sehr konzentrierte sie sich auf das Foto. Sandras Lächeln. Ihr orangefarbener Bikini. Das endlose, blaue Meer im Hintergrund, auf dem weiße Schaumkronen tanzten. Sie erinnerte sich an diesen Augenblick. Spürte wieder den salzigen Wind in ihrem Gesicht, die Wellen, die kühl ihre Füße umspülten.
Plötzlich spürte sie ein leichtes Gewicht auf ihrer Hand. Erstaunt öffnete sie die Augen – und starrte entsetzt auf das Foto in ihrer Hand. Dann wieder auf das eingerahmte Bild auf dem Schreibtisch.
„Ich