Die Chroniken der Wandler. Laura Schmolke
war gefährlich. Und sie war anders. Sie konnte ihr Leben nicht in ihrem Zimmer verbringen, ständig in der Angst, jemanden zu berühren und mit dessen Gefühlen konfrontiert zu werden. Ständig in der Angst, jemanden, den sie liebte, zu verletzen. So wie Sandra. „Pack deine Sachen zusammen“, bat Enapay noch einmal.
Schweigend stand Felicitas auf und warf einige Kleidungsstücke in ihre Sporttasche. Enapay sah stumm zu, während sie noch das Foto, ihren MP3-Player und ihr Tagebuch dazu warf.
„Kannst du mich bitte allein lassen?“, fragte Felicitas auf einmal.
Enapay sah Tränen in ihren Augen glitzern und spürte ihre Traurigkeit und ihre Unentschlossenheit. „Ich warte draußen auf dich.“ Er wandte sich um und war schon im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als er sich noch einmal umdrehte. „Ich kann dich zu nichts zwingen“, erklärte er plötzlich. „Ob du mit mir kommst oder hierbleibst, ist deine eigene Entscheidung.“
Felicitas nickte.
Enapay wusste, was sie gerade durchmachte. Oft hatte er dieses Prozedere miterlebt. Jugendliche, hin- und hergerissen zwischen ihrem Leben und ihrer Bestimmung. Aber er wusste auch, wie Felicitas sich entscheiden würde. Er spürte ihre Neugier, die sie unter der Trauer vergraben hatte, als ob sie sich dafür schämte. Spürte ihr Verlangen danach, aus dem normalen, aus dem alltäglichen Leben auszubrechen und sich ihrem Schicksal zu stellen. Und er spürte ihre Angst vor ihrer Gabe. Und vor sich selbst.
Als Felicitas die Haustür leise hinter sich schloss, ergriff ein seltsames Gefühl von ihr Besitz. Von jetzt an war sie eine Wandlerin und sie wusste nicht, ob sie das gut oder schlecht finden sollte. Sie blieb noch einen Moment vor der Haustür stehen und sah hinunter auf den vertrauten Vorgarten und die Straße. Das alles würde sie jetzt hinter sich lassen. Für wie lange?
Ein schlechtes Gewissen machte sich in ihr breit, als sie daran dachte, wie ihre Eltern und vor allem Sandra reagieren würden, wenn sie am nächsten Morgen ein leeres Bett vorfinden würden.
Obwohl Felicitas ihnen eine Nachricht hinterlassen hatte, dass sie gegangen sei, um anderswo ihr Glück zu finden, und dass diese Entscheidung nichts mit ihnen zu tun hätte, wusste sie doch, dass ihre Eltern sich furchtbare Sorgen um sie machen würden. „Irgendwann werde ich zurückkommen“, versprach sie sich selbst, „dann werde ich ihnen alles erklären und mich entschuldigen.“
Sie atmete ein paarmal tief durch, hängte sich ihre Tasche um und folgte dann dem schmalen, mit Kieselsteinen ausgelegten Weg zur Straße.
Enapay wartete bereits. Reglos wie eine Statue stand er mit geschlossenen Augen im Schatten der Häuser.
„Toll. Und was jetzt?“ Felicitas setzte ihre schwere Tasche ab und sah Enapay erwartungsvoll an. Als er nicht sofort antwortete, redete sie weiter, um die unheimliche Stille, die sie umgab, zu verdrängen. Eigentlich mochte sie die Nacht mit ihren Schatten und Geheimnissen. Doch auf einmal war ihr mulmig zumute. „Also, natürlich können wir auch hier stehen bleiben und darauf warten, dass uns ein Taxi abholt. Oder machen Wandler das irgendwie anders?“
„Still!“, fuhr Enapay sie an. Er hielt die Augen geschlossen, versuchte sich zu konzentrieren. Doch Felicitas' Trauer, ihre Angst und ihre Aufregung waren so stark, dass es ihm schwerfiel, mit Misae Kontakt aufzunehmen.
Plötzlich hörte Felicitas ein Flügelrauschen. Als sie nach oben blickte, entdeckte sie einen kleinen, dunklen Schatten vor dem Mond, der schnell größer wurde.
„Was ...“, murmelte sie noch, als das Tier auch schon einige Meter von ihnen entfernt landete. Völlig geräuschlos legte es seine riesigen Schwingen an und betrachtete Felicitas und Enapay dann erwartungsvoll. Felicitas starrte das Wesen mit offenem Mund an und wich mehrere Schritte zurück. Vor ihr stand ein großer Wolf. Ein Wolf mit Adlerschwingen.
„Ihr habt mich gerufen, Meister.“ Die hohe, weibliche Stimme hallte in Felicitas' Kopf wider.
„Ja, Misae. Danke, dass du so schnell gekommen bist. Wir würden gerne zur Schule zurückfliegen“, erklärte Enapay. Der Wolf neigte den Kopf. Es sah beinahe so aus, als ob er sich verneigte.
„Komm.“ Enapay schritt auf das Wesen zu.
„Aber ...“, protestierte Felicitas. „Das ist doch unmöglich!“, hatte sie sagen wollen, doch die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Wie konnte sie nach den letzten vierundzwanzig Stunden noch glauben, dass irgendetwas unmöglich war?
„Du musst keine Angst vor mir haben, Felicitas.“ Wieder hörte sie die Stimme in ihrem Kopf. „Mein Name ist Misae und ich bin ein Nanook Dyami, ein Wolf mit Adlerschwingen. Ich werde euch sicher zur Schule bringen, denn ich stehe in Enapays Diensten.“
„Ach so ... na dann ist ja alles klar.“ Als sie langsam näher an Misae herantrat, lachte Felicitas. Es hörte sich ein bisschen hysterisch an.
Der Nanook Dyami legte sich auf den Boden und wartete, bis Enapay und Felicitas auf seinen Rücken gestiegen waren.
Noch einmal sah Felicitas zurück auf das kleine, weiße Haus, in dem sie so lange gelebt hatte. Hinter einem Busch sah sie unheimliche, grüne Augen aufleuchten. „Dann bist du also der Einzige, der weiß, was wirklich passiert ist“, raunte sie Shadow zu.
Plötzlich setzte Misae sich in Bewegung. Ohne zu überlegen, klammerte Felicitas sich an Enapay, als der Nanook Dyami die Flügel ausbreitete und in den dunklen, nächtlichen Himmel emporschoss. Erst jetzt fiel Felicitas auf, dass etwas nicht stimmte: Obwohl sie Enapay berührt hatte, blieb die Welle von Gefühlen aus. Ja, sie spürte nichts, nur das Kribbeln in ihrem Bauch und die Euphorie, die sich langsam in ihr ausbreitete, als sie die Stadt mit ihren Lichtern immer weiter unter sich zurückließen.
Das war Magie. Sie wusste es.
Ihre langen Haare wehten im lauen Wind und die Sterne schienen auf einmal zum Greifen nah zu sein. Mit gleichmäßigen Flügelschlägen arbeitete Misae sich in die Höhe.
Bald schon ließen sie die Stadt hinter sich zurück und glitten über den nahe gelegenen Wald. Das silbrige Licht des Mondes ließ die Bäume wie ein Meer aus Schatten wirken, das sich gleichmäßig im Wind wiegte.
„Willkommen in meiner Welt.“ Misaes Stimme klang in ihrem Kopf.
Felicitas lachte. Auf einmal fühlte sie sich so leicht und befreit. Am liebsten wäre sie ihr ganzes Leben lang nur geflogen, würde nicht an gestern denken und nicht an morgen.
Völlig lautlos glitt Misae durch die Nacht. Staunend betrachtete Felicitas die Landschaft, die unter ihnen vorüberzog: erst der Wald, dann die Hügel. Und vor ihnen bemerkte sie die dunklen Silhouetten der Berge, die sich gegen den inzwischen heller gewordenen Himmel abzeichneten. Vorsichtig ließ Felicitas Enapay los und streckte die Arme aus. Der Wind fuhr ihr durchs Gesicht und sie schloss die Augen.
Magie. Freiheit.
Das waren die beiden einzigen Worte, die dieses Gefühl beschreiben konnten, das sich auf einmal in ihr breitmachte. Ja, sie war frei. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Keine Eltern, die ihr sagten, was sie zu tun und zu lassen hatte. Keine Verpflichtungen. Keine Langeweile. Von jetzt an würde sich ihr Leben grundlegend ändern. Und in diesem Moment freute sie sich zum ersten Mal wirklich darauf.
„Schau dir den Sonnenaufgang an, Felicitas“, riet Misae auf einmal. Als Felicitas die Augen wieder öffnete, wurden die Berge von einem goldenen Licht angestrahlt und warfen lange Schatten über die Landschaft. Der Schnee auf den Gipfeln glitzerte.
„Es ist wunderschön“, murmelte Felicitas leise.
„Das ist der Zauber der Natur“, meinte Enapay.
Die Berge zogen unter ihnen vorüber, während die Sterne zusehends verblassten.
„Halt dich fest.“ Wieder hallte Misaes Stimme durch ihren Kopf.
Felicitas klammerte sich an das weiche Fell des Nanook Dyami, als dieser auch schon zum Landeanflug ansetzte. Überrascht schrie Felicitas auf, als Misae sich auf einmal