Die Chroniken der Wandler. Laura Schmolke

Die Chroniken der Wandler - Laura Schmolke


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jetzt schon den Wandlern zugehörig?

      „Natürlich haben wir Feinde“, sagte Ituma. „Merkt euch eines, es wird eure erste Lektion sein: Ohne Gut gibt es kein Böse und ohne Böse kein Gut. Wo Licht ist, da ist auch immer Schatten. Es gibt auch Wandler, die nicht versuchen, den Menschen die Augen zu öffnen, wie wir es tun, sondern sie zu bestrafen für das, was sie den magischen Geschöpfen damals angetan haben. Wir nennen ihren Anführer Hakan, das bedeutet übersetzt Feuer.“

      „Haben all eure Namen eine Bedeutung?“, fragte das kleine Mädchen mit den braunen Haaren. Felicitas erinnerte sich, dass ihr Name Christiane war.

      „Ja“, erklärte Ituma, „Ituma bedeutet übersetzt Weißer Stein. Wenn ihr eure Ausbildung vollendet habt und endgültig in den Kreis der Wandler aufgenommen werdet, bekommt auch ihr neue Namen. Namen indianischen Ursprungs. Sie sollen unsere Verbundenheit mit den Menschen und ganz besonders mit den alten Völkern zeigen, die noch an Magie geglaubt haben, bevor sie von der neuen, technikorientierten Generation überrannt worden sind.“ Sie schwieg kurz. „Hat noch jemand Fragen?“

      Keiner rührte sich. Da war so viel, was Felicitas noch im Kopf herumspukte, doch sie traute sich nicht, es in Worte zu fassen.

      „Gut, dann kommen wir zu eurem Stundenplan.“

      „Dürfen wir unsere Familien besuchen?“, fragte Christiane leise. Ihre Stimme zitterte.

      „Nein“, antwortete Ituma knapp, doch ihr Blick war mitleidvoll. „Alles, was ihr hier lernt und erlebt, muss geheim bleiben. Deswegen dürft ihr, zumindest solange ihr in der Ausbildung seid, keinen Kontakt zur Außenwelt haben.“

      „Und wie lange dauert die Ausbildung?“, wollte Jessy wissen.

      „Ein bis drei Jahre, es kommt ganz darauf an, wie talentiert du bist und wie eifrig du lernst. Nun gut ... sonst noch Fragen?“ Als niemand etwas erwiderte, fuhr Ituma fort. „Also, im ersten halben Jahr habt ihr die Fächer Materie, Gefühl, Traum, Kampf, Energie und Philosophie. Ich werde eure Lehrerin in Philosophie sein, eure anderen Lehrer werdet ihr bald kennenlernen. Aber noch nicht heute Nacht.“

      Sie ließ ihren Blick durch die Runde schweifen.

      „Jeden Abend gibt es um neun Uhr Essen, danach beginnt der Unterricht. Anschließend habt ihr Zeit, eure Hausaufgaben zu erledigen und das zu tun, was ihr wollt.“ Ihr Ton wurde schärfer. „Dabei dürft ihr jedoch weder das Schulgelände verlassen noch in die Kellergewölbe hinuntersteigen!“

      „Wie in einem Gefängnis“, dachte Felicitas bitter.

      „Das gilt auch sonntags, denn das ist euer unterrichtsfreier Tag. Um sechs Uhr gibt es dann wieder Essen.“ Ihr Blick schweifte durch die Runde. „Wenn es keine Fragen mehr gibt, führe ich euch noch ein wenig durch das Schloss.“

      Einige der Jugendlichen erhoben sich zögernd und folgten Ituma auf die Tür zu.

      „Das hier ist euer Klassenzimmer.“ Die Lehrerin schloss in einer einzigen Handbewegung den ganzen Raum ein. „Eure Zimmer und den großen Saal habt ihr ja bereits gesehen. Im zweiten Stock befindet sich ein zusätzlicher Raum für euch, aber ich bin mir sicher, das ist den meisten ebenfalls bekannt.“ Sie wartete gar nicht auf eine Antwort, sondern fuhr gleich fort. „Ich dachte mir, dass ich euch zuerst die Bibliothek zeige ...“

      Felicitas hörte kaum zu, als sie Ituma aus dem Raum folgte. Draußen auf dem Gang war es kalt und es roch nach Moos und feuchtem Stein. Felicitas wunderte sich, dass ihr das vorher noch nicht aufgefallen war. Auf einmal fühlte sie sich so verloren zwischen all den fremden Leuten. Zwischen Ailina, Jessy, Ituma und all den anderen, die sie vor diesem Tag noch nie gesehen hatte. Und jetzt sollte sie auf einmal in diesem Schloss bleiben, ihre Familie und ihre Freunde lange nicht wiedersehen. Ihre wirklichen Freunde.

      Auf einmal schienen die dicken Mauern näher zusammenzurücken, sie gefangen zu halten. Die geheimnisvollen Zeichen wirkten so fremd wie eh und je. Das war nicht ihre Welt. Vielleicht gehörte Ailina hierher. Oder Jessy. Aber sie nicht. Sie gehörte zu ihrer Familie. Zu Sandra.

      Felicitas spürte, wie warme Tränen über ihre Wangen rannen, die sie schnell mit dem Handrücken fortwischte.

      „Du vermisst sie, nicht wahr?“ Plötzlich war Ailina neben ihr. Ihre ruhigen, blauen Augen musterten sie besorgt und auf einmal glaubte Felicitas zu erkennen, was Ailina so sehr von den anderen unterschied: Es waren ihre Augen. Ihre ernsten, sanften Augen, in denen sich so viel Weisheit, so viel Traurigkeit spiegelte.

      „Ja“, flüsterte Felicitas aus Angst, ihre Stimme würde brechen, wenn sie lauter spräche. „Hier ist alles so anders, so fremd. Ich gehöre nicht hierher.“

      Ailina sah sie nur an. Und doch hatte Felicitas das Gefühl, als wüsste das Mädchen ganz genau, was sie gerade durchmachte.

      „Aber ich habe diese Gaben. Vielleicht ist es mein Schicksal, hier zu sein. Vielleicht kann ich gar nichts dagegen tun“, sagte Felicitas leise.

      „Jeder bestimmt sein Leben selbst. Es gibt kein Schicksal, das uns zwingt, etwas zu tun, was wir eigentlich gar nicht wollen. Wir müssen selbst entscheiden – und den gewählten Weg dann zu Ende gehen.“ Ailinas Stimme klang ruhig.

      „Bist du deswegen so stark?“, dachte Felicitas. „Weil du glaubst, dass es kein Zurück mehr gibt? Oder weil du einfach nach vorne siehst, egal, was passiert? Ich bin mit Enapay mitgegangen, und jetzt bin ich hier. Es war meine Entscheidung. Heißt das jetzt, dass ich nie mehr zurück kann?“ Sie seufzte leise und versuchte, diese Gedanken zu verdrängen. Ihr Blick streifte an den Wänden und den silbernen Zeichen entlang, ohne sie wirklich zu sehen.

      Schließlich erreichte die kleine Gruppe die Eingangshalle und Ituma stieß das große Tor auf. Felicitas spürte, wie ein Teil der Anspannung von ihr abfiel, als sie hinaus auf den nächtlichen Hof trat. Lauwarmer Wind trug den Geruch des Waldes zu ihr hinunter und wenn sie den Kopf in den Nacken legte, konnte sie über sich die Sterne funkeln sehen. Heller, als sie es je in der Stadt vermocht hätten. Der volle Mond tauchte die Wiese vor ihr in ein silbriges Licht, doch die Mauer auf der anderen Seite war in Schatten gehüllt. Hier spürte sie die nächtliche Faszination noch stärker. Stille. Einsamkeit. Schatten.

      Wandler sind nachtaktiv.

      Das hatte Ailina gesagt, erst vor Kurzem.

      War sie deswegen schon immer so fasziniert von der Dunkelheit gewesen? Weil sie tief in ihrem Inneren schon immer gewusst hatte, dass sie anders war? Dass sie eine Wandlerin war?

      *

      Medas Prophezeiung

      Ja, die Nacht ist endlos und ich weiß, dass es kein Erwachen geben wird. Dass sie nicht aufwachen wollen. Aber ich weiß, dass sich hinter unserer Sonne ein ganzes Universum öffnet.

      Die Schüler folgten Ituma, die über den dunklen Schlosshof eilte und erst vor einer schwarzen, in der Dunkelheit kaum auszumachenden Tür stehen blieb. Nur die silbernen Zeichen, die in die Tür eingeritzt waren, leuchteten geheimnisvoll.

      „Hinter dieser Tür befindet sich die Bibliothek“, erklärte Ituma leise. „Sie ist das größte Heiligtum unserer Schule, denn darin sind uralte Schriften und Zeichnungen gesammelt.“

      Ihre grünen Augen leuchteten in der Dunkelheit.

      Plötzlich wurde die Tür aufgezogen und eine kleine, alte Frau stand auf der Schwelle, die Ituma und die Schüler unverhohlen musterte. Dann sah sie zu den Sternen hinauf und ihr Blick verschleierte sich.

      „Die Nacht ist zu klar!“ Ihre Stimme klang rau und brüchig. „Etwas Schreckliches wird geschehen! Schon bald wird die Verräterin sich zu erkennen geben!“

      „Meda! Es gibt keine Verräterin!“, unterbrach Ituma die Alte. Sie klang sanft und doch bestimmt. „Du siehst Gefahren, wo keine sind!“

      „Verzeih mir, Ituma.“ Meda neigte den


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