Die Chroniken der Wandler. Laura Schmolke
Ihr abwesender Blick und die geheimnisvollen Worte hatten eine seltsame Angst in ihr hervorgerufen.
„Krieg und Friede“, murmelte Ailina plötzlich und riss Felicitas dadurch aus ihren Gedanken. „Leben und Tod.“
Erst jetzt bemerkte Felicitas, dass sie durch einen langen Gang gingen, der nur spärlich von Fackeln beleuchtet wurde. Auch hier waren die Wände und die Decke mit den geheimnisvollen Symbolen beschrieben. „Hörst du sie auch?“, fragte Ailina leise. „Die Stimmen?“
„Was denn für Stimmen?“ Felicitas runzelte die Stirn.
„Sei still, dann hörst du sie.“
„Also ich höre nichts“, schaltete sich Jessy ein, verstummte dann jedoch, als Ailina einen Finger an die Lippen legte.
Wieder war es still. Nur ihre Schritte machten unnatürlich laute Geräusche auf dem feuchten Boden. Und da war noch etwas anderes. Erst jetzt hörte Felicitas es: ein leises Murmeln, Worte, die miteinander verschmolzen und klagten – über vergangene Zeiten.
„Sie erzählen Geschichten“, flüsterte Ailina. „Du hörst sie, Felicitas, nicht wahr?“
Felicitas nickte nur. Auf einmal war es ihr, als streife sie ein kalter Windzug, und sie erschauderte.
„Was sagen sie?“, fragte Felicitas leise. „Ich kann sie nicht verstehen.“
„Sie reden von einer anderen Welt. Und von einem schrecklichen Krieg“, hauchte Ailina. Dann verstummte sie plötzlich.
„Was sagen sie sonst noch?“, hakte Felicitas nach.
„Ich weiß es nicht. Mehr verstehe ich nicht.“
Felicitas sah ihre neue Freundin prüfend an. Da war etwas in Ailinas Augen, eine unterschwellige Angst, die sie zu verbergen suchte. Auf einmal war Felicitas sich sicher, dass Ailina ihr etwas verheimlichte. Doch sie hatte keine Zeit mehr, weiter nachzufragen, da der Gang in eine große Halle mündete.
Der riesige Raum war vollgestellt mit Regalen, in denen sich ledergebundene Bücher und antike Schriftrollen stapelten. An den Wänden brannten mehrere Kaminfeuer und die Fackeln warfen tanzende Schatten.
„Wow!“, hauchte Felicitas. Ihr Blick schweifte über die unzähligen Regale. Wie viel Wissen hier wohl gesammelt war?
„Ihr habt jetzt Zeit, die Bibliothek alleine zu erkunden“, verkündete Ituma. „Ihr dürft auch Bücher ausleihen, müsst sie jedoch innerhalb von drei Tagen wieder zurückgeben.“ Dann nickte sie den Schülern zu und steuerte auf Meda zu, die ihnen gefolgt war. Während sich die beiden Frauen in ein Gespräch vertieften, ging Felicitas zögernd auf eines der Regale zu.
Unwillkürlich lächelte sie, als ihr der Geruch nach Leder und feuchtem Pergament in die Nase stieg. Mit den Fingerspitzen fuhr sie über die Buchrücken und fragte sich, wie alt die Bücher wohl waren. So tauchte sie immer weiter in die Bibliothek ein. Die Stimmen der anderen Schüler blieben hinter ihr zurück und schon bald hörte sie nur noch ihre eigenen Schritte, die unangenehm laut in der Stille widerhallten.
Sie blieb stehen und sah sich um. Überall Regale, Bücher und Schriftrollen. Vorsichtig zog Felicitas eines der ledergebundenen Bücher aus dem Regal. Es war schwer und verstaubt. Felicitas wischte mit der Hand darüber, um den Titel entziffern zu können.
Drachen und andere fantastische Wesen stand dort in verschlungener Schrift. Vorsichtig schlug Felicitas das alte Buch auf und sah sich Augen in Auge mit einem blauen Drachen. Obwohl er nur gezeichnet war, glänzten seine Schuppen in allen nur erdenklichen Blautönen und dünne Äderchen durchzogen seine Flügel.
Felicitas starrte wie hypnotisiert auf das Bild. Der Drache fauchte und zeigte dabei seine langen, spitzen Zähne, und doch wirkte er gar nicht gefährlich. Eher traurig und verloren. Seine dunklen, grünen Augen blickten Felicitas fast vorwurfsvoll an.
„Wie konntest du das zulassen?“, schien der Drache sie zu fragen. Felicitas wusste nicht, wie lange sie die Zeichnung betrachtet hatte. Sie war so wunderschön, so ... so magisch. Ob Drachen wohl wirklich so ausgesehen hatten? Sie erinnerte sich an Etu, den Drachen aus ihrem Traum. Er war golden gewesen und hatte gelbe Augen gehabt.
„Dieses Buch ist uralt“, ertönte plötzlich eine tiefe, raue Stimme hinter Felicitas. Das Mädchen fuhr herum und erblickte Meda, die nur wenige Schritte von ihr entfernt stand. Wieso hatte sie die Alte nicht kommen gehört?
„Heute sind Drachen auf der Erde nur noch Märchengestalten, Fantasiewesen. Aber damals waren sie die Wirklichkeit.“
„Sie wurden gejagt“, erinnerte Felicitas sich, „und vereinten sich, um mit ihrer Magie eine neue Welt zu erschaffen.“ Wie logisch das Ganze doch auf einmal klang.
Meda nickte. Hinkend trat sie näher an Felicitas heran und sah sie eindringlich an. Das Mädchen senkte den Blick.
„Bald schon wird unsere jetzige Wirklichkeit nur noch Legende sein. Eine neue Ära wird beginnen. Bald schon. Eine Ära des Friedens. Oder des Krieges. Des Lebens. Oder des Todes. Nun liegt es allein in Onidas Hand.“ Medas Stimme zitterte.
„Wer ist Onida?“, fragte Felicitas leise.
Meda antwortete nicht. Ihr Blick war starr auf Felicitas gerichtet, doch sie schien das Mädchen nicht wirklich zu sehen. „Es gibt kein Licht ohne Schatten und keinen Tag ohne die Nacht. Wie die Sonne, so hat auch Onida zwei Seiten. Keine vermag es, die andere zu besiegen. Und nur vereint können sie Großes vollbringen.“
„Was ... was meinen Sie damit?“ Felicitas' Stimme klang heiser. Ihre Hände zitterten. Aus irgendeinem Grund wusste sie, dass Medas Worte wichtig waren. Sehr wichtig sogar. Dass die Alte etwas wusste, von dem noch nicht einmal Enapay eine Ahnung hatte.
„Das musst du alleine herausfinden.“ Meda lächelte. „Weiche nicht von deinem Weg ab und aus dir wird eine große Wandlerin, Felicitas Wilara.“
Dann drehte sie sich um und hinkte mit schlurfenden Schritten von Felicitas weg. Verwirrt sah diese ihr nach, unfähig, sich zu bewegen. Die rätselhaften Worte spukten noch immer in ihrem Kopf herum, doch es wollte ihr nicht gelingen, ihren Sinn zu begreifen.
„Warte!“ Endlich gelang es Felicitas, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie eilte hinter Meda her, doch als sie um eine Ecke trat, war der Gang dahinter leer. Von Meda war keine Spur zu entdecken. Es schien fast, als wäre sie vom Erdboden verschluckt worden.
„Wer ist Onida?“, fragte Felicitas noch einmal. Niemand antwortete ihr.
„Ich verstehe wirklich nicht, was ihr alle habt. Ich meine ... es sind doch nur Bücher!“ Jessy klang aufgebracht.
„Bücher erzählen uns Geschichten. Von längst vergangenen Zeiten. Aus ihnen kann man lernen“, erklärte Ailina gerade geduldig, als Felicitas zu ihnen stieß. „Wo warst du so lange?“, fragte Ailina, ohne von dem Buch, das sie gerade in den Händen hielt, aufzublicken.
Felicitas zuckte mit den Schultern. „Irgendwo weiter hinten.“
Sie überlegte, ob sie Ailina und Jessy von Meda und der rätselhaften Prophezeiung erzählen sollte, ließ es dann jedoch bleiben. Schließlich hatte sie keine Ahnung, was Medas Worte bedeuten sollten.
„Sollten wir nicht mal zu den anderen gehen?“, fragte sie stattdessen.
„Ja! Gehen wir!“ Jessy wollte sich freundschaftlich bei ihr unterhaken, erinnerte sich dann jedoch an ihre Gabe und ließ es bleiben.
Ailina seufzte leise, stellte das Buch zurück ins Regal und folgte Felicitas und Jessy. Es dauerte eine Weile, bis sie Ituma entdeckten. Die Lehrerin stand nicht weit von der Tür entfernt an die Wand gelehnt und starrte ausdruckslos vor sich hin. „Ituma?“, fragte Jessy vorsichtig.
Ituma zuckte zusammen und setzte sofort ein gekünsteltes Lächeln auf. „Ja?“
„Wir ...“ Jessy blickte Ailina Hilfe suchend an.
„Eigentlich