Die Chroniken der Wandler. Laura Schmolke

Die Chroniken der Wandler - Laura Schmolke


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      Plötzlich musste Felicitas wieder an ihren Traum denken und eine seltsame Angst erfasste sie, die sie sich nicht erklären konnte.

      ***

      Muraco schlug die Augen auf. Sofort umfing ihn wieder die gewohnte Dunkelheit.

      „Er ist wach!“, hörte Muraco Patamon aufgeregt flüstern.

      Patamon war der jüngste Meister, erst vor wenigen Monaten hatte das traditionelle Ritual stattgefunden, das ihm diesen Status verlieh.

      „Was hat er Euch mitgeteilt?“, fragte Enapay.

      Muraco hörte das Rascheln seines Gewandes, als der fünfte Meister auf ihn zukam.

      „Etu hat gesagt, dass Onida bald kommen wird“, erklärte Muraco leise. Er spürte die Aufregung, die von Patamon und den anderen ausging. Aber da war noch ein anderes Gefühl ... Angst.

      „Wovor fürchtest du dich?“

      Enapay zuckte zusammen, als sich Muracos sichtloser Blick auf ihn heftete.

      „Vor ...“, der fünfte Meister zögerte, „vor Onida“, sagte er schließlich. „Laut der Prophezeiung soll sie mächtiger werden, als je ein Wandler zuvor. Was also, wenn sie sich unseren Feinden anschließt?“

      „Das werden wir nicht zulassen“, warf Songan ein.

      „Und wie willst du es verhindern?“ Niyol, der zweite Meister, erhob sich. „Jeder Wandler ist frei, seine eigenen Entscheidungen zu treffen.“

      „Da hast du recht.“ Muraco nickte gedankenverloren.

      „Aber Etu hat sie doch ausgewählt“, bemerkte Patamon, „also wird sie sich uns anschließen!“

      „Ich weiß nicht, ob Etu ihr schon ihre Kräfte verliehen hat. Er sprach nur davon, dass Onida bald kommen wird, nicht, dass sie schon da ist.“ Muraco klang erschöpft.

      „Er wird Euch wohl kaum umsonst vor Onida gewarnt haben?“, fragte Enapay.

      „Nein. Umsonst bestimmt nicht. Irgendetwas wird geschehen. Ein großer Wandel steht uns bevor und wir sollten beten, dass er zu unseren Gunsten sein wird.“

      ***

      Felicitas öffnete die Augen und stöhnte vor Schmerzen auf, als sie versuchte, sich aufzurichten. Alles tat ihr weh. Nachdem sie ein paarmal geblinzelt hatte, erkannte sie auch, woran das lag: Sie war am Fenster eingeschlafen.

      Jetzt, im Tageslicht, war ihre Straße kaum wiederzuerkennen: Vögel zwitscherten, die Sonne schien und die Schatten waren verschwunden. Ein einzelner Jogger lief an ihrem Haus vorüber und grinste sie an, woraufhin sie sich schnell vom Fenster zurückzog.

      Weil sie noch keine Lust hatte, sich fertig zu machen und zu frühstücken, legte sie sich noch ins Bett, um zu lesen. Auch wenn sie es am Anfang der Ferien nie geglaubt hätte, freute sie sich jetzt doch wieder auf die Schule. Die Tage zogen sich in die Länge, während Martina, ihre beste Freundin, in Italien am Strand lag. Aber Felicitas' Familie konnte sich keinen Urlaub leisten. Also saß sie hier fest.

      „Felicitas!“ Die Tür wurde aufgerissen und Sandra, ihre kleine Schwester, stürmte herein.

      „Was ist denn los?“, murmelte Felicitas und richtete sich mühsam auf.

      „Jetzt sag nicht, du hast noch geschlafen!“, schrie Sandra.

      „Ganz ruhig!“ Felicitas hob beschwichtigend die Hände. „Was ist denn los?“

      „Ich habe um zehn Uhr ein Date mit Tom und du hast versprochen, mir eine hübsche Frisur zu machen!“

      „Oh ja, natürlich!“ Felicitas schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Sandras Date mit Tom! Wie hatte sie das nur vergessen können? Dabei redete ihre Schwester doch seit Tagen von nichts anderem mehr.

      „Wie sehe ich aus?“ Sandra drehte sich ein paarmal im Kreis und setzte dabei ein übertriebenes Lächeln auf.

      „Soll ich ehrlich sein?“, fragte Felicitas vorsichtig.

      „Ja.“

      „Du siehst aus, als hättest du heute Morgen zum ersten Mal in deinem Leben einen Kajal benutzt.“

      „Aber Felicitas, ich habe heute Morgen zum ersten Mal in meinem Leben einen Kajal benutzt!“

      Felicitas seufzte. „Los, hol die Abschminktücher. Ich mach das.“

      Sandra wirbelte aus dem Zimmer, streckte jedoch nur Sekunden später wieder ihren Kopf durch die Tür. „Ääh ... wo sind denn die Abschminktücher?“

      „Im Schrank unter dem Waschbecken.“

      Und weg war sie.

      Felicitas seufzte. Auch wenn sie es nicht gerne zugab, beneidete sie ihre kleine Schwester ein wenig. Seit ihrem letzten Date waren zwei Jahre vergangen. Obwohl ... eigentlich war es nie zu einem richtigen Date gekommen, schließlich hatte Stefan sie sitzen lassen.

      „Ich bin wieder da-ha!“ Sandra kam ins Zimmer gerannt und krachte gegen das Bett, als der Teppich unter ihr wegrutschte.

      „Oh Gott! Alles in Ordnung?“ Felicitas half ihrer kleinen Schwester auf.

      Sandra stöhnte. „Habe ich irgendwo hässliche blaue Flecken?“

      Felicitas lachte, froh darüber, dass das Sandras einziges Problem zu sein schien. „Nein. So, und jetzt setz dich hin und halt still.“

      Während sie mit einem Abschminktuch vorsichtig den viel zu dick aufgetragenen Puder und den verschmierten Kajal abwischte, redete Sandra wie ein Wasserfall. Obwohl Felicitas sich bemühte, ihr zu folgen, musste sie sich doch viel zu sehr auf das Schminken konzentrieren, und so verschmolzen die Worte ihrer kleinen Schwester immer mehr zu einem gleichmäßigen, nervenden Summen.

      Felicitas fluchte leise, als sie mit dem Lippenstift daneben malte, weil Sandra noch nicht einmal für ein paar Sekunden den Mund halten konnte. Mit ihrem Finger wollte sie den roten Fleck auf der Wange ihrer kleinen Schwester wegwischen, als etwas Seltsames geschah: Kaum berührte sie Sandras Haut, durchfuhr sie ein heftiger Energieschub. Auf einmal empfing sie so viele Gefühle: Angst, Neugier, Nervosität, Aufregung. Sie kamen wie eine riesige Welle, die über ihr zusammenbrach und sie zu ertränken drohte. Ihr Kopf pochte vor Schmerz und die Welt verschwamm vor ihren Augen. Der Lippenstift fiel ihr aus der Hand und kam mit einem klackernden Geräusch auf dem Boden auf.

      Und plötzlich war alles wieder vorüber.

      „Felicitas? Ist alles in Ordnung?“

      „Ja ... es war nur ... ein Schwindelanfall.“ Felicitas' Hand zitterte, als sie den Lippenstift aufhob. „Halt jetzt einfach still, okay?“

      Sandra nickte gehorsam. Auf einmal war es seltsam still im Zimmer. Draußen auf der Straße lachten Leute. Felicitas hatte das Gefühl, alles nur noch wie durch eine dünne, durchsichtige Wand wahrzunehmen. Das Gelächter klang seltsam verzerrt, das Ticken der Uhr empfand sie als unregelmäßig. Was war nur los mit ihr?

      „Felicitas, ich glaube, das reicht.“

      Mit Entsetzen bemerkte sie, dass sie die ganze Zeit mit dem Lippenstift über Sandras Lippen gefahren war, die jetzt knallrot waren.

      „Ist wirklich alles in Ordnung mit dir? Ich kann mein Date auch verschieben, wenn es dir nicht gut geht“, bot Sandra an.

      „Natürlich geht es mir gut!“ Das Letzte, was Felicitas wollte, war, Sandra ihr erstes Date zu versauen.

      „Dann sollten wir uns beeilen.“ Sandra warf einen vielsagenden Blick auf die Uhr.

      „Okay, ich mache dir jetzt eine Frisur. Was möchtest du?“

      „Keine Ahnung.“

      Felicitas seufzte und machte sich daran, Sandras Haare zu kämmen. Immer wieder


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