Die Chroniken der Wandler. Laura Schmolke

Die Chroniken der Wandler - Laura Schmolke


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angelte sich ihr Handy. „Sieben.“

      Einige Momente lang herrschte Schweigen.

      „Was will Ituma von uns?“ Ailina sprach die Frage laut aus, die sie beide beschäftigte.

      Felicitas zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht ...“

      Felicitas wusste nicht genau, was sie erwartet hatte, aber bestimmt nicht, dass die ganze Schule im großen Saal versammelt war und frühstückte, als wäre alles wie immer.

      „Geht deine Uhr falsch?“, fragte sie Ailina, während sie sich einen Weg zum hintersten Tisch bahnten.

      „Da seid ihr ja endlich! Wisst ihr, was hier los ist?“, überfiel Jessy sie sofort, nachdem sie Platz genommen hatten. Sie ließ Felicitas und Ailina gar keine Zeit, um zu antworten, sondern fuhr gleich fort: „Alle hier sind so angezogen, als ob ...“ Sie verstummte, als Enapay sich erhob. Felicitas fiel auf, dass der Meister ein festliches, schwarzes Gewand trug. Auf seiner Brust waren zwei gleich große Kreise aufgestickt, ein silberner und ein goldener. Der goldene verbarg den silbernen zur Hälfte und mehrere einzelne Fäden erstreckten sich von ihm aus über den Rest des Gewandes.

      „Wie die Strahlen einer Sonne“, schoss es Felicitas durch den Kopf. Dann erst erkannte sie, dass der goldene Kreis anscheinend genau das darstellen sollte: eine Sonne. Mit dem silbernen Kreis dahinter wirkte es, als würde sie sich gerade vor den Mond schieben.

      „Guten Abend.“ Enapay lächelte freundlich in die Runde. „Ich freue mich sehr, euch in dieser besonderen Nacht, der Nacht der Sommersonnenwende, zu begrüßen.“

      „Sommersonnenwende also“, murmelte Jessy. „Das soll der Grund sein, weswegen wir nicht ausschlafen durften? Eine ziemlich miese Ausrede, wenn ihr mich fragt!“

      „Darf ich um Ruhe bitten?“ Obwohl Enapay nicht laut sprach, füllte seine Stimme die gesamte Halle aus. Er wartete einige Augenblicke, bis er wieder die volle Aufmerksamkeit der Schüler genoss. Erst dann fuhr er fort. „Es ist mir eine Ehre, euch Pavati vorstellen zu dürfen.“

      Enapay deutete mit einer eleganten Handbewegung auf eine junge, schwarzhaarige Frau, die ganz am Rand des Lehrertisches saß. Sie hatte den Kopf geneigt, sodass ihre Haare wie ein Vorhang ihr Gesicht verbargen. „Sie hat heute Nacht den heiligen Schwur abgelegt und ist dem Kreis der Lehrer beigetreten.“ Er neigte seinen Kopf vor der jungen Frau und Ituma begann, höflich zu klatschen. Schüler sowie weitere Lehrer stimmten mit ein.

      „Zudem freue ich mich, heute Nacht wieder das Tokahe-Spiel zu leiten.“ Er wurde von dem Applaus einiger älterer Schüler und Lehrer unterbrochen und wartete, bis wieder Ruhe eingekehrt war. „Ich fordere die jüngeren Schüler daher auf, nach dem Essen mit Ituma in ihr Klassenzimmer zu gehen, die älteren versammeln sich wie gewohnt im Hof.“

      Ituma trug mehrere Gewänder über dem Arm, in der Hand hielt sie einige Ketten, an denen schwarze oder grüne Federn baumelten.

      „Nehmt Platz“, bat sie, als sie das Klassenzimmer erreicht hatten. „Das Tokahe-Spiel ist seit jeher eine Tradition an unserer Schule. Zu Ehren von Etu veranstalten wir einmal im Jahr zur Sommersonnenwende eine Art Turnier. Dazu werden alle Schüler in insgesamt zwei Gruppen aufgeteilt und erhalten eine Fahne. Ihre Aufgabe ist es, an die Fahne der gegnerischen Gruppe heranzukommen. Dazu reicht es, wenn einer der eigenen Gruppe sie berührt. Gleichzeitig ist es wichtig, die eigene Fahne zu beschützen. Sowohl zum Angriff als auch zur Verteidigung sind alle Mittel erlaubt, man darf seine Gaben in allen drei Ebenen anwenden.“

      „Ist ja krass!“ Alex' Augen leuchteten.

      Ituma räusperte sich. „Natürlich gibt es gewisse Regeln. Ein Energieball darf die Größe von vier Zentimetern nicht überschreiten, sonst könnte er den Getroffenen ernsthaft verletzen. Greift man einen Kontrahenten auf Ebene Zwei an, reicht es, dessen Schutzschild zu durchbrechen, mehr ...“

      „Aber wir haben noch gar nicht gelernt, wie man auf Ebene Zwei angreift“, warf July ein.

      „Das macht nichts.“ Ituma machte eine abwertende Handbewegung.

      „Aber dann können wir ...“, begann Jessy, wurde aber von Ituma unterbrochen.

      „Lasst mich bitte erst zu Ende erklären, bevor ihr Fragen stellt.“ Sie schien kurz zu überlegen, wo sie stehen geblieben war, bevor sie fortfuhr: „Und auch in Ebene Eins gibt es Grenzen. Es ist verboten, spitze Gegenstände zu erschaffen, die dem Gegner wirklich gefährlich werden könnten. Wird eine dieser Regeln verletzt, scheidet der Betroffene aus dem Spiel aus.“ Sie schwieg kurz, um ihren Worten eine größere Wirkung zu verleihen. „Was das Spiel zusätzlich erschwert, ist das hier“, erklärte sie schließlich weiter und hob die Federn hoch. „Jeder von euch erhält eine Kette mit einer Feder in jeweils einer Farbe – entweder grün oder schwarz. Diese Farbe bestimmt, in welcher Gruppe ihr seid. Gelingt es einem Schüler aus der gegnerischen Gruppe, euch während des Spiels die Feder von der Kette zu reißen, scheidet ihr ebenfalls aus. Noch Fragen?“

      „Ja“, antwortete Leo sofort, „wir haben weder gelernt, Gegenstände zu erschaffen noch auf Ebene Zwei anzugreifen. Wie sollen wir uns und die Fahne dann verteidigen?“

      „Jeder kämpft mit dem Wissen und dem Können, das er bereits erlangt hat. Es ist die Aufgabe der älteren Schüler, die Gruppen zu organisieren und dafür zu sorgen, dass die Kräfteverhältnisse gut verteilt sind. Ich weiß, dass es euch ungerecht erscheinen mag, aber ihr müsst es als Übung betrachten. Als Übung, eure Kräfte einzusetzen wie in einem echten Kampf, als Übung, eine Aufgabe im Team zu bewältigen. Und ihr werdet sehen: Mit jedem Jahr lernt ihr mehr dazu, mit jedem Jahr werdet ihr stärker ...

      Ach ja, das hätte ich fast vergessen: Gespielt wird draußen, in einem Teil des Waldes. Enapay hat einen Bann um das Spielfeld gelegt, der es für die Menschen unauffindbar macht. Wir Lehrer werden am Rand des Feldes stehen und darauf achten, dass keiner von euch den Bannkreis verlässt und dass alles mit rechten Dingen zugeht.“ Sie lächelte ihr übertriebenes Lächeln. „Gibt es sonst noch irgendwelche Fragen?“

      Als keiner der Schüler Anstalten machte, etwas zu sagen, trat sie in den Stuhlkreis und reichte als erstes July ein schwarzes Gewand, auf dem ebenfalls eine Sonne und ein Mond aufgestickt waren, dünne Handschuhe und eine Kette mit einer grünen Feder.

      „Muss ich das wirklich anziehen?“, fragte July verzweifelt, hielt das Gewand vor sich und betrachtete es von allen Seiten.

      „Ja“, antwortete Ituma knapp. „Aufgrund einer Abmachung mit Hakan sind wir verpflichtet, diese Gewänder zu tragen, sobald wir die Schule verlassen.“

      Als sie hinaus in den Hof traten, wurden sie von den älteren Schülern bereits erwartet. Immer wieder zupfte Felicitas an ihrem Gewand herum, das fast bis auf den Boden reichte und sie von Kopf bis Fuß verhüllte. Es war unbequem und sie bekam darin kaum Luft, da es nur einen schmalen Spalt für die Augen freiließ.

      „Alle mit grünen Federn bitte zu mir!“, rief eine junge, dunkelhaarige Frau und winkte mit einer grünen Fahne. Felicitas, July, Simon und Christiane eilten auf ihre Gruppe zu.

      Der Name der Dunkelhaarigen war Anne und sie machte es sich zur Aufgabe, ihre Gruppe zu organisieren. Felicitas und die insgesamt dreiundzwanzig anderen Schüler folgten ihr durch den Wald, bis sie einen geeigneten Platz gefunden hatten, um ihre Fahne aufzustellen. Ein blonder, großer Junge, etwa zwei Jahre älter als Felicitas, hatte die kleine Senke als Erster entdeckt und der Rest der Gruppe, allen voran Anne, war begeistert.

      „Wir stellen einen Ring aus Schülern dort oben auf“, verkündete Anne und deutete auf den Rand der Senke, „und noch einmal ein paar hier unten. Der Rest unserer Gruppe verstreut sich erst einmal im Wald und sucht nach der Fahne der anderen.“ Sie überlegte kurz und ließ ihren Blick über ihre Teammitglieder wandern. „Josh und Magdalena“, wandte sie sich schließlich an zwei ältere Schüler, „ihr koordiniert den äußeren Ring. Nina, du kümmerst dich um die Verteidigung innerhalb der Senke. Ich leite den Angriff.“ Die von ihr angesprochenen Schüler nickten.

      „Okay.“


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