CHAOS. Alec Xander

CHAOS - Alec Xander


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Schüler lachten aus vollem Hals, klatschten einander ab und zeigten mit den Fingern auf ihn.

      „Och, bist du nass geworden?“, höhnte einer der Angreifer.

      Eisern unterdrückte Bastian die Tränen, die ihm in die Augen schossen. Er wusste, dass wenn er auch nur im Geringsten angedeutet hätte, traurig zu sein, sie ihm vermutlich niemals von der Pelle rücken würden. Kniend und mit gesenktem Kopf verweilte er bewegungslos im Nass.

      „Du bist so erbärmlich!“, meinte einer der Aggressoren voller Gehässigkeit und spuckte in die Richtung des Regungslosen. „Schwuchtel!“ Voller Schadenfreude lachten sie und redeten amüsiert durcheinander. Ganz cool kamen sie sich nun vor, wie Gewinner, die etwas Großes erreicht hatten.

      „Lass uns gehen, Mann! Diese Schwuchtel widert mich an!“ Sie warfen ihm einen letzten abfälligen Blick zu, ehe sie davongingen und so taten, als sei nichts geschehen.

      Bastian strich sich die triefenden, braunen Haarsträhnen aus dem Gesicht und schaute den Jungs bekümmert nach. Nur langsam schaffte er es, sich zu erheben. Er war nahezu komplett durchnässt. Sein Rucksack trieb wie eine Blüte auf dem Wasser. Bastian ergriff ihn und schleppte sich zur Wiese. Er ließ sich auf die Knie fallen. „Warum immer ich?“, fragte er sich flüsternd. Der Neuntklässler hängte sich den Rucksack um und trat, vertieft in einer Welt ohne Kummer und Leid, den Heimweg an.

      1.2

      Von weitem sah Bastian die Plattenbausiedlung, in der er zusammen mit seiner Mutter lebte. Einst hatte er die Gegend sehr gemocht, denn er hatte viele Freunde besessen. Nach der Schule hatte er stets so schnell wie nur möglich nach draußen gehen wollen, um sich mit seinen Kameraden zu treffen. Sie hatten herumgealbert und anderen Streiche gespielt. Bis spät in den Abend hinein saßen sie meistens vor dem Haus und unterhielten sich. Doch all das hatte sich schlagartig geändert, als ein Mädchen, das in Bastian verliebt gewesen war, nicht mit seiner netten Abfuhr zurechtkam. Sofort hatte sie aus Wut herumerzählt, der Mann ihrer Träume stünde gar nicht auf Frauen, sondern auf Männer. Eine Tatsache, die Bastian nur zu gern für sich behalten hätte. Die Abgewiesene war dermaßen in Rage gewesen, dass sie Flugblätter anfertigte, auf denen ein Bild von Bastian zu sehen war und unter dem geschrieben stand: „Mein Name ist Bastian Dekker und ich bin eine schwule Sau!“ In der ganzen Stadt hatte sie diese Blättchen verteilt und ihn somit zum Gespött im Ort gemacht. Dermaßen gedemütigt zu werden, veränderte den ohnehin schon zurückhaltenden Schüler ungemein. Bastian zog sich fortlaufend zurück, verbrachte die Tage in seinem Zimmer, anstatt draußen das Leben zu genießen. Er hatte niemanden mehr.

      Bastian lief über den breiten Pflasterweg, der zu den Hochhäusern führte. Zu seiner Rechten standen Autos, die den Anwohnern gehörten. Es folgten große Mülltonnen mit Runddeckeln, Papiertonnen und zig Reihengaragen, auf die man leicht draufklettern konnte. Dahinter führte ein kleiner Abhang zu einem Feld, auf dem oft viel Müll lag. Das Haus, in dem Bastian wohnte, war bis auf den Eingang von einer Wiese umgeben, die nur selten im Sommer gemäht wurde. Bastian stieg die wenigen Stufen zur blickdichten Doppelglastür hinauf und kramte in der Tasche nach dem Schlüssel. Währenddessen warf er einen flüchtigen Blick auf die vielen Klingelschilder, von denen einige beschmiert, andere wiederum kaputt oder kaum lesbar waren. Er öffnete die Tür und sah nach, ob sich Post im Briefkasten befand. Dann drückte er die nächste Doppeltür auf und stieg in den ersten Stock. Vor der Tür der achtzig Quadratmeter großen Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung zog er sich die Schuhe aus und stellte sie in einem kleinen Holzschrank ab. Nachdem er die Wohnung betreten und die Tür hinter sich geschlossen hatte, sah er in den offen stehenden Abstellraum, wo stets das reinste Durcheinander herrschte. Verstimmt rollte Bastian die Augen, denn nahezu wöchentlich musste er dort für Ordnung sorgen. Wie seine Mom dieses Gewirr ständig hinbekam, war ihm ein ungelöstes Rätsel. Kopfschüttelnd ging er in sein Zimmer, das sich gegenüber dem Kabuff befand. Um zu verhindern, dass seine Hefte und Bücher zu stinken begannen, legte er diese hastig auf die Heizung. Mit geschlossenen Augen hielt Bastian einen Moment inne und atmete tief durch, bevor er beschloss, eine Dusche zu nehmen. Er öffnete den schmalen Kleiderschrank, nahm sich frische Kleider heraus und lief durch den schmalen Flur, dessen Wände mit grauer Rauhfaser tapeziert waren. Nachdem er das Bad mit den rosafarbenen Kacheln betreten und die Tür hinter sich abgeschlossen hatte, entledigte Bastian sich der schmutzigen Bekleidung und legte die Sachen auf die Waschmaschine.

      Nach der wohltuenden Dusche trocknete Bastian sich ab und kämmte sein Haar durch. Es gab nicht viel, was er an sich selbst mochte, aber seine mittellangen, braunen Haare, die liebte er. Durch seine ausgiebige Pflege waren sie sehr geschmeidig und glänzten schön. Außerdem fand der Schüler, dass er schöne Augen besaß. Die äußere Iris war hellblau, der Ring um die Pupille azur- und dunkelblau. Seine glatte Gesichtshaut hingegen betrachtete Bastian seit einiger Zeit mit mürrischen Blicken, denn viele Gleichaltrige hatten bereits den ersten Bartwuchs, manche gar einen kompletten Bart. Gern hätte er ebenfalls Stoppeln im Gesicht gehabt. Aber Bastian hätte gern vieles mehr gehabt: mehr Muskeln, einen runderen Po und größer wäre er auch mit Vergnügen gewesen. Die Liste war sehr lang, und alles, was er keinesfalls haben wollte, besaß er seiner Ansicht nach: Eine komische Stupsnase, eine minimale Zahnlücke zwischen den oberen Frontzähnen und die wenigen Muttermale an seinem Leib störten ihn ebenfalls. Angestrengt seufzte der Unzufriedene auf und griff nach den weißen Socken und der blauen Pants, um sie anzuziehen. Im freundlich eingerichteten Wohnzimmer angelangt, blickte er zu der offenstehenden Balkontür. Dass seine Mom sie nicht geschlossen hatte, verstand er nicht. Erst neulich hatte er ihr höflich versucht zu erklären, dass sie im ersten Geschoss wohnten und Einbrecher leicht über den Balkon in die Wohnung kommen könnten. Aber das war ihr offensichtlich egal. Sie brauche eine frisch riechende Wohnung, wenn sie nach Hause komme und da sei es von Nöten, die Balkontür offenstehen zu lassen. Damit war die Diskussion für sie auch beendet.

      Nachdem Bastian den Balkon betreten und zum Wäscheständer geguckt hatte, prustete er genervt. Die Wäsche, die er am Vorabend gewaschen hatte, lag immer noch in dem Korb. Bastian wusste, dass er ohnehin nicht um die Arbeit herum kommen würde. Während er die Wäsche aufhängte und die Sonnenstrahlen genoss, die auf seinen Körper fielen, sah er ab und zu zum verlassenen Spielplatz, der zwischen den beiden Wohntürmen lag und lediglich aus einem Sandkasten und einem kaputten Klettergerüst bestand. Sein Blick schweifte über den Spielplatz und die gewaltige Wiese hinweg zur anderen Straßenseite, wo sich edlere Bauwerke befanden. Er sah, wie jemand aus einem der schicken Häuser herauskam und die Tür seines Wagens öffnete. Wie so oft stellte der Teenager sich die Frage, warum jemand freiwillig in solch eine Gegend zog. Es war schließlich ein Unterschied wie Tag und Nacht. Auf der einen Seite lebte die arbeitende Bevölkerung, die im Luxus badete, und auf der anderen herrschte das reinste Tohuwabohu. Kaum einer, der in einem der Hochhäuser lebte, übte einen Job aus. Viele Anwohner gaben sich bereits früh morgens die Kante oder schliefen bis in den Nachmittag hinein. Etliche alleinerziehende Mütter wohnten dort, aber auch Leute, die sich selbst aufgegeben hatten. Die Mieten waren recht günstig und wurden vom Amt bezahlt, was viele Leute, die den ganzen Tag über nur herumgammelten, gern ausnutzten. Jede Wohnung verfügte über einen Balkon, wovon die meisten ziemlich marode waren. Auf jeder der zwölf Etagen gab es vier Wohnungen. In der Regel blieben die oberen jedoch leer, da sie sich in einem katastrophalen Zustand befanden.

      Bastian blickte zu einem Pärchen, das Hand in Hand auf dem Bürgersteig lief. Sie wirkten auf ihn sehr glücklich. Liebe muss so schön sein, dachte er betrübt. Schon immer hatte er sich an eine Schulter anlehnen und einen Körper auf seinem spüren wollen. Allerdings war es nie dazu gekommen, da niemand außer ihm schwul zu sein schien. Bastian war es leid, ständig allein sein zu müssen. Ungewollt dachte er an einen Urlaub, den er als Sechsjähriger zusammen mit seinen Großeltern gemacht hatte. Er erinnerte sich an den Moment, als er auf einem kleinen Schiff stand und die untergehende Sonne betrachtet hatte. Ein seltsames Gefühl hatte sich in ihm ausgebreitet. Es fühlte sich so an, als ob etwas sehr Wichtiges in seinem Leben fehlen würde. Als ob jemand an seiner Seite hätte sein müssen. Wie Bastian schon in jungen Jahren solche Gefühle haben konnte, verstand er selbst nicht. Plötzlich vernahm der Einsame das Geräusch der sich öffnenden Wohnungstür.

      „Bastian?“,


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