Der Moment, der alles änderte. Julia Thurm
spielten meine Schwester und ich im Saint Mary’s Park ausgelassen miteinander. Wir hatten sehr viel Spaß. Irgendwann rief meine Mom auf Christins Handy an und forderte uns auf, nach Hause zu kommen, da es schon spät wäre. Wir packten unsere Sachen zusammen, und da es nicht weit war, brauchten wir nicht lange für den Weg.
Es war ein völlig normaler Tag. Wir aßen alle gemeinsam zu Abend, danach durften Christin und ich noch ein wenig fernsehen.
Um 20 Uhr brachte mich Mom ins Bett und sagte zu mir: „Schlaf jetzt schön, mein Schatz, denn morgen machen wir zusammen einen Ausflug und dafür musst du ausgeruht sein. Okay?“ Sie gab mir einen Gutenachtkuss und verließ das Zimmer.
Kurz darauf war ich auch schon eingeschlafen.
Am nächsten Morgen erwachte ich sehr aufgeregt, denn der versprochene Ausflug sollte nach Philadelphia gehen, wo wir mit Delfinen schwimmen würden. Nach dem Frühstück packten wir alles zusammen und fuhren mit dem Auto los. Es war ein langer Weg bis nach Philadelphia und bis heute frage ich mich, warum wir eigentlich nicht geflogen sind. Das Geld dazu hätten wir gehabt.
Nachdem wir New York verlassen hatten, ging es auf die Autobahn. Eine Weile konnte man frei fahren, doch nach etwa zwölf Meilen bildete sich ein kleiner Stau. Da die Straße mehrspurig war, erblickte ich direkt neben uns einen schwarzen Van, dessen Scheiben ebenfalls schwarz getönt waren. Er sah unheimlich aus und machte mir ein wenig Angst. Ich war ja erst vier Jahre alt. Plötzlich wurde das Fenster der Fahrerseite heruntergelassen. Aber nur so weit, dass man die dunkelbraunen Augen des Fahrers erkennen konnte. Diese starrten mich erst reglos an, dann zwinkerten sie mir zu, bevor das dunkle Fenster wieder hochfuhr.
Ich sah mich um, keiner außer mir schien das gesehen zu haben. Weder meine Schwester, die neben mir saß, noch unsere Eltern.
Meine Mom drehte sich zu mir um und fragte besorgt: „Alles okay, Katie? Du guckst so merkwürdig.“
Ich antwortete: „Ja, Mommy, alles in Ordnung.“
Sie strahlte mich an und drehte sich wieder in Fahrtrichtung.
Nach einigen Minuten löste sich der Stau auf, was ziemlich ungewöhnlich war, und man konnte problemlos weiterfahren.
Ich erinnere mich noch genau an diese Situation. Meine Schwester hörte Musik, meine Eltern ließen das Radio laufen, summten ihren Lieblingssong mit und ich spielte mit meinem Plüschhund Jack. Spike hatten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Plötzlich sah ich durch das Rückfenster den schwarzen Van wieder. Dieses Mal befand er sich hinter uns. Aber nicht lange, denn er überholte uns ziemlich schnell, mit mindestens 200 km/h rauschte er an uns vorbei. Eine Geschwindigkeit, die auf amerikanischen Autobahnen nicht erlaubt ist. Nach kurzer Zeit war der Van in der Ferne verschwunden und ich konnte ihn nicht mehr sehen.
Und dann passierte es: Ich hörte einen lauten Knall, einen panischen Schrei und nahm wie in Trance ein helles Licht wahr.
Dann nichts.
Ich wurde bewusstlos und wachte erst wieder auf, als Feuerwehrmänner versuchten, mich aus dem Auto zu befreien. Das Komische war, dass sich alles in Zeitlupe bewegte. Außerdem sah ich die Welt falsch herum, da das Auto auf dem Dach lag. Man holte mich aus dem Wagen und ich sah, was den Knall ausgelöst hatte. Mindestens 20 qualmende Fahrzeuge standen auf der Straße und 50 weitere waren bereits völlig ausgebrannt. Man kann sich dieses traurige Bild nur schwer vorstellen, wenn man nicht selbst dabei war. Ich wurde in einen Krankenwagen verfrachtet und sah meine Schwester und meinen Dad. Beide wurden gerade wiederbelebt. Aber damals verstand ich das noch nicht, also schrie ich: „DADDY!“ Doch er antwortete nicht.
Ich blickte zu meiner Schwester. Beide hatten Verbrennungen, bei meinem Vater waren sie so schlimm, dass man sogar schon teilweise seine Knochen sah. Ich blickte aus dem Krankenwagen hinaus und sah Mom. Sie war, körperlich betrachtet, kein kompletter Mensch mehr. Gerade wurden ihre sterblichen Überreste in einen Sarg gelegt. Das war zu viel für mich. Ich wurde erneut bewusstlos und kam erst im Krankenhaus wieder zu mir.
Christin lag mit einer Atemmaske neben mir. Doch das war schon alles, was ich erkannte, denn ich war extrem schwach und schlief sofort wieder ein.
Erst als ich am nächsten Morgen aufwachte, bemerkte ich, dass ich eine Platzwunde am Kopf und einen Verband am rechten Unterarm hatte. Eine Krankenschwester brachte mir Essen und Trinken. Aber ich konnte nichts zu mir nehmen, geschweige denn reden oder weinen. Ich sah einfach nur hinüber zu meiner Schwester, und zwar an jedem einzelnen Tag der Woche. Ich konnte nicht schlafen aus Angst, ich würde den Moment verpassen, wenn Christin aufwachte.
Nach einer langen Woche des Wartens dachte ich, sie würde nicht mehr zu mir zurückkehren. Doch als ich die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, wachte meine Schwester endlich auf. Sie war schwach und erschöpft, aber sie war wach und das war das Wichtigste für mich. Nach einer weiteren Woche ging es ihr deutlich besser. Ihre Schmerzen ließen nach, allerdings trug sie einen dicken Verband am linken Arm, an den Schultern, im Brustbereich und am Hals. Nachdem uns eines Tages einer der Ärzte untersucht hatte, fragte meine Schwester nach unserem Dad. Der Arzt sagte, dass er auf der Intensivstation im Koma läge. Auf die Frage, ob wir ihn besuchen könnten, reagierte er zunächst skeptisch, stimmte aber schließlich zu.
Noch am selben Tag wollten wir ihn sehen und machten uns auf den Weg zur Intensivstation des Krankenhauses. Dad lag ebenso reglos in seinem Bett wie Christin zuvor, allerdings waren seine Verletzungen weitaus schwerwiegender.
Nach einer Weile fragte meine Schwester den Arzt, der uns begleitet hatte, nach unserer Mom. Sie hatte bis zu jenem Zeitpunkt noch nicht mitbekommen, dass diese nicht mehr unter uns weilte. Ich hatte es ihr nicht sagen können, genau genommen, hatte ich seit dem Unfall überhaupt nicht mehr gesprochen. Der Arzt versuchte, meiner Schwester schonend die Wahrheit beizubringen, doch das erwies sich als ziemlich schwierig. Es dauerte, bis die volle Bedeutung seiner Worte zu Christin durchgedrungen war, doch als sie es schließlich begriff, weinte und schluchzte sie ohne Unterlass. Ich konnte nichts für sie tun, sie war untröstlich.
Mir hingegen war es unmöglich zu weinen. Das Einzige, was ich noch fühlte, waren Kälte und ein unendlicher Schmerz.
Nur einen Tag später starb auch Dad an den Folgen des Unfalls. Von diesem Zeitpunkt an war nichts mehr wie vorher. Wir wären auf uns allein gestellt gewesen und in ein Heim abgeschoben worden, wenn Tante Grace nicht das Sorgerecht für uns bekommen hätte.
Ich nahm nicht an der Beerdigung unserer Eltern teil, weil ich darum gebeten hatte. Der Schmerz war einfach zu groß für mich.
*
5
Vor diesem tragischen Ereignis, das mein Leben völlig auf den Kopf gestellt hatte, war es schon öfter passiert, dass ich weinte. Aber seitdem war ich wie eingefroren. Außer Aggressivität zeigte ich keine Gefühle mehr. Vielleicht, weil ich Angst hatte, erneut verletzt zu werden.
Nach einer Weile riss ich mich von diesen Gedanken los, da sie mich ziemlich bedrückten. Ich schaltete den Fernseher aus und ging in mein Zimmer. Als ich gerade die Treppe hochlief, öffnete sich die Haustür und Christin kam herein.
„Schon wieder da? Du wolltest doch erst in einer Stunde kommen“, meinte ich erstaunt.
„Eigentlich ja, aber die Firma hat mein Vorstellungsgespräch abgesagt und ich habe keine Ahnung, wieso.“ Enttäuscht die Achseln zuckend, wandte sie sich ab und ging in die Küche.
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, schlurfte ich nach oben in mein Zimmer. Es war erst Mittag, aber ich wünschte mir sehnlichst, der Tag wäre schon vorbei.
Als ich auf meinem Bett lag und schon fast eingeschlafen war, platzte meine Schwester ins Zimmer „Kommst du? Wir holen jetzt deine Uniform für die neue Schule.“
Ich dachte genau das, was an dieser Stelle jeder denken würde: „Oh mein Gott, ich muss allen Ernstes eine Schuluniform tragen? Okay, jetzt ist es offiziell, der Tag ist gelaufen!“
„Kommst du jetzt?“, drängte meine Schwester.