Eishockey. Sebastian Böhm
in die Gruppe der Lower Body Injuries eingeordnet wurde und eine ordentliche Schultereckgelenksprengung in die Gruppe der Upper Body Injuries.
Entscheidend war nur noch, ob die Verletzung den Verletzten über oder unter der Gürtellinie plagte. Und weil man in Deutschland dazu neigt, gerade die Absonderlichkeiten aus Nordamerika zu übernehmen, war in Pressemitteilungen alsbald nur noch von Oberkörper- und Unterkörperverletzungen zu lesen, gerade wenn die Play-offs das Spiel noch einmal grundlegend veränderten.
Das mag man albern finden, es zeigt aber, dass Eishockeyspieler sich und allen anderen grundsätzlich alles zutrauen. Ein Spieler, der gerade erst nach einer Oberkörperverletzung aufs Eis zurückgekommen ist, wird in jedem Zweikampf so hart behandelt, wie sein Gegner das gerade für nötig hält. Ein Spieler hingegen, von dem jeder weiß, dass er sich vor drei Wochen den Daumen angebrochen hat, muss ständig damit rechnen, dass der nächste Stockschlag seinem gerade wieder zusammengewachsenen Daumen gilt – schon alleine, weil er selbst dieses Wissen auch nicht ausblenden könnte.
Die Zwei-Minuten-Strafe ist ein Korrektiv, das im besten Fall zur Attraktivität des Spiels beiträgt. Dabei war sie gar nicht von Beginn an vorgesehen. So etwas Ähnliches wie Eishockey wurde in Kanada bereits drei Jahrzehnte gespielt, als man auf die Idee kam, Fouls nicht nur durch ein Bully (das damals auch in Nordamerika noch als Bully und nicht als Faceoff bezeichnet wurde) zu „bestrafen“. Erst 1904 wurden Spieler vom Eis geschickt, damals noch zwei, drei oder fünf Minuten lang. Zu dieser Zeit wurden allerdings auch noch Torhüter bestraft, wenn sie sich aufs Eis fallen ließen, um einen Puck abzuwehren.
Die Zwei-Minuten-Strafe kann aber auch bedeuten, dass ein Spieler mehr als 40 Minuten lang auf der Strafbank Platz nehmen muss. Als Derek Hahn zum Ende der Verlängerung des Spiels seines EHC München und der Straubing Tigers wegen eines Crosschecks zusehen musste, ärgerte er sich vor allem deshalb, weil er seinem Team als sicherer Penaltyschütze nicht mehr helfen konnte. Und wer weiß, vielleicht hätte es dieses DEL-Spiel mit Derek Hahn auf dem Eis nicht in die Rekordliste geschafft. So aber sah der Kanadier hinter der Plexiglasscheibe Kollegen und Gegner scheitern oder treffen, allerdings immer im Einklang. Erst die Schützen 41 und 42 entschieden die Partie, Straubings Eric Meloche traf, Münchens Stephane Julien vergab. Und Derek Hahn durfte endlich die Strafbank verlassen – nach dem längsten Penaltyschießen in der Geschichte des Eishockeys.
Drei herausragend unfaire Eishockeyspieler
Gordie Howe: Er war das Idol des größten Eishockeyspielers. Wayne Gretzky verehrte Gordie Howe. Keiner hat mehr Spiele absolviert, nur einer hat mehr Tore geschossen. Er wurde Mister Hockey genannt, aber nicht von allen. Wenn ein Spieler in einem Spiel ein Tor schießt, eines vorbereitet und sich einem Faustkampf stellt, wird noch immer auf den Mann aus Saskatchewan verwiesen. Der Gordie-Howe-Hattrick ist längst ein Standardbegriff aus dem Eishockeyvokabular. Gegner nannten Howe allerdings gerne Mister Elbows, ganz einfach, weil er sich nicht zu fein dafür war, seine Ellbogen im Zweikampf einzusetzen. Sein Sohn Mark, selbst ein NHL-Veteran, bezeichnete seinen Vater als „den fiesesten Spieler, den ich je gesehen habe”.
Ulf Samuelsson: „Ich würde niemals behaupten, dass ich sauber Eishockey spiele, weil ich das nicht tue.“ Dieser Satz stammt nicht aus einem Treffen der anonymen Schlägertypen. Es stammt von Ulf Samuelsson, einem Verteidiger aus der Clutch-and-Grab-Ära.
Samuelsson war sehr groß und sehr böse. In Umfragen, sowohl unter Spielern als auch unter Fans, kam Mister Dirty regelmäßig auf Spitzenwerte bei der Frage nach dem schmutzigsten Spieler – obwohl es ihm an Konkurrenz nicht mangelte.
In der Saison 1990/1991 beendete er die Saison von drei Gegnern, darunter auch die Karriere von Cam Neely, einem der begabtesten Power Forwards, die das Spiel je hervorgebracht hat. Es gab immer Spieler, die mehr Strafminuten hatten als der Schwede, aber genau das empörte seine vielen Feinde: Samulsson duckte sich nicht selten weg, wenn ihn ein Gegner einer Strafe zuführen wollte, die der Allgemeinheit damals als angemessener erschien als ein Aufenthalt auf der Strafbank. Samuelsson aber war kein Schläger, das machte ihn noch gefährlicher.
David Leggio: In der Geschichte des Eishockeys finden sich sicher an die 100 Torhüter, die verrückter, brutaler oder schmutziger spielten als der Mann aus Buffalo. Und trotzdem darf Leggio selbst in dieser sehr exklusiven Auflistung nicht fehlen. Leggio trug das Trikot der Bridgeport Sound Tigers, als er zwei Stürmer der Springfield Falcons auf sich zufahren sah, aber keinen seiner Verteidiger. Leggio hob also das Tor aus seiner Verankerung und kippte es um. In Sekundenschnelle erfasste er, dass er gegen einen Spieler eine höhere Chance hatte, den Puck abzuwehren, als gegen zwei Spieler. Leggio wusste, dass er lediglich mit einem Penalty bestraft werden würde. Den Penalty parierte er und die American Hockey League passte nach der Saison ihr Regelwerk an.
Nach seinem Wechsel in die Deutsche Eishockey Liga erkundigte er sich vor der Saison, wie in Deutschland in einem solchen Fall verfahren würde. Spätestens da hätte man bei der DEL alarmiert sein müssen. Aber als Leggio im Spiel gegen Bremerhaven Ross Mauermann auf sich zufahren sah und er wieder sein Tor verschob, konnten die Schiedsrichter erneut nur auf Penalty entscheiden. Auch den parierte der US-Amerikaner. Und wieder wurde ein Regelwerk um die „Leggio-Rule“ erweitert, weshalb es ein Torhüter in diesen sehr exklusiven Kreis geschafft hat.
1.4 4:33 FORECHECK
Zwei Spieler bedrängen David Wolf an der blauen Linie. Ein Puckverlust würde mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Torchance für die Olympischen Athleten aus Russland führen. Wolf schießt den Puck deshalb die Bande entlang aus dem eigenen ins gegnerische Drittel. Marcel Goc und Patrick Reimer preschen der Scheibe hinterher, geben Ilya Kablukov keine Chance, den Puck kontrolliert und ruhig anzunehmen.
Reimer bedrängt den Russen, schlägt ihm kontrolliert auf die dicke Hose, verfolgt ihn hinter das Tor, zieht den Schläger gerade rechtzeitig wieder zurück, bevor ein Schiedsrichter die Chance hat, den Arm zu heben. Als Kablukov den Puck ablegt, dreht auch Reimer ab, um Yegor Yakovlev zu nerven, er zwingt den Verteidiger, die Scheibe die Bande entlang aus dem Drittel zu chippen. An der Mittellinie wartet bereits David Wolf, der den Puck Marcel Goc in den Lauf legt.
Gilbert Perreault hat keinen Stanley Cup gewonnen, er hat am Canada Cup teilgenommen, dabei aber kein Tor geschossen, das man in Kanada je vergessen wird – vor dem Halbfinale brach er sich den Unterschenkel. Er hatte mit Marcel Dionne und Guy Lafleur die ganz große Bühne betreten, der Zufall aber verkaufte ihn nach Buffalo, eine Stadt, in der selbst die größten Superstars vergessen werden. Er war the Forgotten Frenchman, der Franko-Kanadier, den man vergessen hatte. Dabei hatte er wirklich alles, Tempo, Eleganz, Spielintelligenz – und Humor. Perreault wurde nach den drei wichtigsten Elementen seines Sports gefragt. Er anwortete: „The forecheck, the backcheck and the pay check“ – der Forecheck, der Backcheck und der Gehaltsscheck.
Für eines dieser Wörter gibt es eine deutsche Übersetzung, aber den Forecheck und seinen spießigen Bruder, den Backcheck, haben selbst die Fußballer entlehnt, weil „Pressing“ nicht so sexy klingt und sich unter „Angriffsverteidigung“ niemand etwas vorstellen kann. Wobei der deutsche Begriff am treffendsten ist. Der Forecheck ist schließlich genau das: ein Angriff ohne Puckbesitz. Und im besten Fall folgt er sofort auf den Angriff mit Puckbesitz. Ein guter Angreifer, heißt es, plant seinen Forecheck in dem Moment, in dem er geschossen hat.
Das ist der Vorteil des Stürmers, der Verteidiger muss sich im Normalfall drehen, die Situation scannen: Hält der Torhüter den Puck? Lässt er ihn prallen? Und wenn ja, wohin? Das ist der Moment, in dem der Angreifer den Verteidiger unter Druck setzt, ihn in die Ecke drängt, seine Passoptionen limitiert. Beim Forecheck geht es gar nicht zwangsläufig darum, sofort den Puck zurückzuerobern, es geht auch darum, dem Gegner die Möglichkeiten zu nehmen, ihn zu einem Fehlpass oder zumindest zu einem schlechten Pass zu zwingen.
Es gibt Spieler, die den Forecheck im Wortsinn interpretieren, die den Verteidiger tatsächlich checken. Das