Eishockey. Sebastian Böhm
war der Erste, der ein nach Blut und Brutalität lechzendes Publikum aus den Sitzen riss. Kasparaitis war keine 1,80 Meter groß, die vermeintliche Schwäche aber machte er zu seiner Stärke, tauchte unter seinen Gegnern hindurch und hebelte sie aus. Der Hüftcheck schien ausgestorben zu sein, zu schnell war das Spiel geworden. Kasparaitis aber belebte diese alte Form und im Erfolgsfall spektakuläre Form wieder. Sein Timing war perfekt, ebenso seine Technik und seine Balance. Kasparaitis musste nicht abheben, er musste keinen Anlauf nehmen oder seine Ellbogen einsetzen. Er war einfach nur mutiger als seine Gegner.
Niklas Kronwall: Wenn in der „Joe“ wieder einer in die Wand gerannt ist, wussten die Fans sofort Trost zu spenden. „You got kronwalled“, riefen sie, eher hämisch als mitfühlend, während sich auf dem Eis ein Spieler der Gegner neu sortierte – wenn er Glück hatte. Die Kunst Pavel Datsyuks, die Dynamik Henrik Zetterbergs, die Akrobatik Dominik Hašeks und die Tradition der „Joe“, der Joe Louis Arena, das waren die Detroit Red Wings nach der Jahrtausendwende. Und die Checks von Niklas Kronwall, einem ungemein freundlichen Schweden, der auf dem Eis unfreundlich gemein werden konnte.
Dabei wirkte seine Arbeit gar nicht so aggressiv wie bei vergleichbaren Spielern, Kronwall erhob das Checken zu einer Kunstform, wenn er sich seinen Opfern im Mitteldrittel rückwärtsfahrend näherte, darauf wartete, dass sie den Puck annahmen und sie dann an seinem offensichtlich aus schweren Klinkersteinen gemauerten Körper zerschellen ließ. Das Letzte, was seine Gegner sahen, war Kronwalls Nummer: 55. Sein Revier machte Kronwall einzigartig. Er brauchte keine Bande, an der er seine Gegner zerquetschen konnte, Kronwall jagte im offenen Eis.
Und: Seine Checks waren brutal, aber den Regeln nach waren sie sauber. Kronwall war ein anständiger und ehrlicher Spieler, seine Strafzeitenbilanz stand in einem bizarren Missverhältnis zu dem Schaden, den er anrichtete. In der Lounge des Triple Gold Clubs, zu dem nur Spieler Zutritt haben, die sowohl eine olympische Goldmedaille und einen Weltmeistertitel als auch einen Stanley Cup gewonnen haben, werden immer alle genau wissen, wo sich der Mann gerade einen Drink gönnt, dem ein Partizip gewidmet worden ist.
Scott Stevens: Ohne es zu wollen, hat Scott Stevens das Spiel verändert. Und es gibt tatsächlich immer noch Menschen, die das bedauern. Die aber nicht bedauern, dass Stevens die Karrieren von Vyacheslav Kozlov, Eric Lindros, Paul Kariya, Shane Willis und Ron Francis beendet hat. That‘s hockey! Und eben nicht Eiskunstlauf. Stevens hat das selbst gesagt, nachdem ihm Arturs Irbe, der sehr eigene Torhüter der Carolina Hurricanes, vorgeworfen hatte, andere Spieler töten oder zumindest aus den Play-offs befördern zu wollen.
Irbe hatte selbst auf dem Eis gesehen, wie Willis und Francis an dem 1,90 Meter großen und 100 Kilogramm schweren Stevens zerschellt waren. Dabei war Stevens nicht nur für seine Checks bekannt. Er zählte zu jenen Spielern, die ihr erstes Tor mit dem ersten Schuss erzielten, als Kapitän führte er die New Jersey Devils zu drei Stanley-Cup-Triumphen.
Aber wenn man nach „Scott Stevens“ bei YouTube® sucht, wird man immer erst den Check finden, der die Karriere von Eric Lindros beendet hat. Ja, Lindros hatte eine Geschichte an Gehirnerschütterungen. Und, ja, für einen kurzen Moment hielt Lindros den Kopf nicht oben, als er über die blaue Linie der Devils fuhr. Stevens reichte das, er traf den wuchtigen Mittelstürmer der Philadelphia Flyers mit dem Ellbogen am Kinn. Stevens-Fans verweisen jetzt darauf, dass der Mann aus Kitchener in seiner langen Karriere angeblich nur viermal wegen eines Ellbogenchecks auf der Strafbank saß.
Nur ist das weniger ein Argument für Stevens, sondern eher gegen die NHL, für die Stevens‘ Checks so wichtig waren wie Wayne Gretzkys Pässe oder Brett Hulls Tore. Stevens spielte von 1982 bis 2004, zu seiner Zeit wurde der Großteil seiner Checks als sauber angesehen. Seine Schreckensbilanz und letztlich der brutale Check von Matt Cooke gegen den Kopf von Marc Savard führten dazu, dass die NHL ihre Regeln änderte und Angriffe gegen den Kopf konsequenter ahndete (wenn auch, ohne deren Einfluss auf Gehirnerschütterungen und auf die Hirnerkrankung CTE einzugestehen). Stevens‘ Spiel hinterließ aber auch bei ihm selbst Spuren. In seiner letzten Saison kam er nur auf 38 Einsätze, zu viele Gehirnerschütterungen beendeten seine Karriere.
1.6 11:04 BREAKOUT
Moritz Müller stiehlt den Puck an der eigenen blauen Linie, passt ihn zu Frank Hördler, der sieht, dass die Olympischen Athleten aus Russland wechseln. Also zieht er sich hinter das deutsche Tor zurück. Er sieht zwei Spieler auf sich zukommen, einer links, einer rechts vom Tor. Hördler wartet – bis Ivan Telegin ausrutscht, dann nutzt er den Platz zu einem Pass auf Dominik Kahun, der von der Bande aus startet und sich in der Mitte anbietet. Kahun macht zwei schnelle Schritte, sieht, dass die Mitte blockiert ist, spielt die Scheibe auf den rechts mitgelaufenen Matthias Plachta. Plachta hat Platz, ist schnell, spielt einen Russen aus, verliert dabei die Scheibe, die Yasin Ehliz hinter dem Tor aufnimmt. Ehliz passt auf Kahun, der sofort abzieht. Vasili Koshechkin pariert.
Wenn die Erfolge ausbleiben und selbst der Tabellenletzte als gefährlicher Gast angesehen werden muss, wenn das leichte Eishockey also plötzlich schwerfällig daherkommt, dann stellen die Fans gerne und inzwischen besonders in Kommentarspalten: die Systemfrage. Weil es ja so aussieht, als gäbe dieser überforderten Mannschaft niemand ein System vor oder als weigere sich diese überforderte Mannschaft, ein System zu spielen. In beiden Fällen ist derjenige schuld, der das System vorgegeben hat. Der Trainer. Doch gibt es das überhaupt im Eishockey, das System?
Jede Sportart mit einem gewissen taktischen Anteil ist irgendwann von irgendwem schon einmal mit Schach verglichen worden. Zum American Football passt das auch sehr gut, weil das Spiel ständig unterbrochen wird und die Coaches die gesamte Zeit über Einfluss auf das Geschehen nehmen können. Jede Mannschaft hat ein Playbook mit unzähligen Spielzügen, für nahezu jede denkbare Situation.
Solche Bücher gibt es auch im Basketball, auch wenn es gerade in der National Basketball Association so aussieht, als würden die meisten Spielzüge nur gelaufen, um am Ende jenen Spielern den Ball aussichtsreich zu überlassen, die am meisten Geld verdienen und dem Klub am meisten Geld einbringen.
Im Eishockey verdienen die Stars ebenfalls Millionen von Us- Dollar oder Rubel, es macht aber keinen Sinn, Systeme für einen Spieler zu kreieren, weil dieser eine Spieler kaum mehr als ein Drittel der Spielzeit auf dem Eis verbringen wird. Klare Laufwege vorzugeben, ist ebenfalls keine gute Idee, weil sich gute Verteidigungen spätestens nach dem zweiten Mal darauf einstellen würden und Eishockey ohnehin eine schnelle, unvorhersehbare Abfolge von Angriff, Puckverlust, Forecheck, Backcheck, Puckgewinn, Angriff und so weiter ist.
Holger Geschwindner, der Mann, der Nationalspieler war, Physiker, Weltenbummer und Leiter des Instituts für angewandten Unfug und der der Welt die beste Version von Dirk Nowitzki geschenkt hat, dieser geniale Kauz hat behauptet, Basketball sei Jazz. Wahrscheinlich aber nur, weil er noch nie ein Eishockeyspiel gesehen hat.
Eishockey scheint eine ständige Improvisation zu sein. Die Trainer aber geben ihren Verteidigern und ihren Stürmern natürlich für verschiedene Spielsituationen unterschiedliche Aufgaben mit auf den Weg. Bei Puckbesitz ist festgelegt, wer wem hilft, wer für wen absichert, wer sich wie weit vorwagen darf. „Gerade, wenn es nicht läuft“, sagen Coaches gerne, „ist das System dein Freund.“ Wenn ein Coach gehen muss, behaupten die Spieler gerne das Gegenteil. Nachdem die Toronto Maple Leafs von Mike Babcock erlöst wurden, sollte der Weltklassestürmer Austin Matthews den größten Unterschied benennen. Er sprach von: „Freiheit.“
Vergleichsweise klar und unverhandelbar geben Trainer das Verhalten im Aufbau vor, wobei die nordamerikanische Bezeichnung, wie so häufig, passender ist: Breakout. Lange Zeit gab es für den Transport des Pucks ins gegnerische Drittel zwei Schulen. Im sowjetischen Eishockey war der Spieler im Puckbesitz der Diener seiner Mitspieler. Im Unterschied zum kanadischen Eishockey aber konnte sich der Diener auf seine vier Mitspieler verlassen. Im kanadischen und im kanadisch geprägten Eishockey verließen sich die vier Mitspieler auf ihren Diener. Je scheibensicherer, geduldiger und umsichtiger dieser Diener war, desto Erfolg versprechender geriet der Aufbau, nicht selten endete er aber an der blauen Linie, indem der Puck tief ins Drittel gespielt wurde.
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