Eishockey. Sebastian Böhm

Eishockey - Sebastian Böhm


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Selbst ein harter, relativ schnell abgefeuerter und präziser Schlagschuss sollte für einen Torhüter bei freier Sicht kein Problem sein. Nach zwei sicheren Paraden mit der Fanghand lässt vielleicht die Konzentration nach, vielleicht stimmt der Winkel nicht ganz und plötzlich wird der Puck vielleicht noch abgewehrt, vielleicht aber prallt er von den Schienen ab, wird unkontrollierbar und unkalkulierbar. Und dann liegt er im Netz, weil sich zuvor jemand der Macht eines Schlagschusses erinnert hatte.

      Es gibt aber noch einen Grund für den Bedeutungsverlust des Schlagschusses: das Material. Die Qualitäten eines Holzschlägers wussten nur die schwersten und größten Spieler zu nutzen. Vom jungen Uwe Krupp gibt es ein großartiges Foto, das den Kölner, der später Deutschlands erster Stanley-Cup-Sieger werden sollte, beim Schlagschuss zeigt – und zwar genau in dem Moment, in dem sein Schläger das Eis berührte. Krupp bog das Holz durch, indem er sein Gewicht in den Abzug legte. Krupp ist beinahe zwei Meter groß, ohne Schlittschuhe, und war als Spieler mehr als 100 Kilogramm schwer.

      Sogenannte Composite-Schläger aber biegen mittlerweile auch die Waterbugs durch, die Wasserflöhe, die einst nach Europa umziehen mussten, um ihr Talent zu entfalten, und die das Eishockey revolutioniert haben. Niemand muss mehr auf den einen Moment warten, in dem er die Zeit hat, den Puck per Schlagschuss ins Netz zu prügeln, wenn man ihn mit dem neuen Schlägermaterial per Handgelenkschuss oder per Snap Shot (ein Hybrid aus Handgelenk- und Schlagschuss) ähnlich beschleunigen, dabei aber präziser zielen kann. Und das auch aus Entfernungen, aus denen früher der Schlagschuss zum Einsatz kam.

      Der Schlagschuss wird natürlich trotzdem überleben, schon allein, weil er für eine Technik Voraussetzung ist, die im Eishockey immer beliebter wird: die Deflection, das Abfälschen eines Schusses. Es ist noch nicht allzu lange her, da hatten Feldspieler noch die Chance, einen Torhüter zu überwinden, ohne ihn ausspielen zu müssen. Da reichte es, einen Schlagschuss wie Al Iafrate zu haben. Der US-Amerikaner Brian Rolston zum Beispiel war dafür bekannt, im Penaltyschießen voll aufzuziehen und damit erstaunlich oft zu treffen.

      Moderne Torhüter sind im direkten Duell durch Schüsse kaum mehr zu überwinden. Deshalb ist es so wichtig, dass immer ein Angreifer dem Torhüter die Sicht nimmt – und/oder den Puck auf seinem Weg ins Tor noch leicht berührt. Als gelegentlicher Beobachter dieser schönen Sportart könnte man meinen, es sei Zufall, wenn ein 150 km/h schneller Puck über das Blatt eines Schlägers rutscht und deshalb dem Torhüter durch die Schienen. Ist es aber nicht, es ist die Präzisionsarbeit zweier Spieler, die das nicht ein- oder zweimal, sondern hundert-, oft tausendmal geübt haben.

      Das heißt nicht, dass es nicht auch Zufall sein kann, deshalb werden Jugendtrainer ja auch nicht müde, aufs Eis zu schreien, dass die Stürmer vor dem Tor verdammt noch mal ihre Schläger nicht vom Eis anheben sollen. Je höher jedoch das Niveau ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sich ein Torhüter durch flache, abgefälschte Schüsse überwinden lässt.

      Der halbhohe Schuss aber, den ein Stürmer im letzten Moment nach unten abfälscht, stellt auch die besten Torhüter vor unlösbare Probleme. Die Flugbahn des Pucks wird dabei ebenfalls nicht zufällig verändert, es gibt Stürmer, die in Bruchteilen von Sekunden erkennen können, womit der Torhüter rechnet – um zu versuchen, genau das Gegenteil eintreten zu lassen. Und das passiert wiederum, während ein 100 Kilogramm schwerer Verteidiger versucht, genau das zu verhindern.

      Es braucht also Mut, um sich in die Bahn eines im schlimmsten Fall tödlichen Hartgummigeschosses zu stellen, Durchsetzungsvermögen und Kraft, um genau diese Position zu halten, und eine außergewöhnliche Hand-Auge-Koordination.

      Es braucht aber manchmal weder einen brachialen Schlagschuss noch eine kunstvolle Deflection. Reggie Dunlop beleidigte Tommy Hanrahans Ex-Frau Suzanne so lange, bis der Torhüter der Long Island Ducks auf den Spielertrainer der Charlestown Chiefs losging – und deshalb ein Tor kassierte. Wobei nicht vergessen werden sollte, dass es sich sowohl bei Dunlop als auch bei Hanrahan um Charaktere aus dem Film Slap Shot handelt.

       Drei herausragende Schlagschützen

      Bernie Geoffrion: Es heißt, dass die Spieler damals Mitleid mit den Torhütern gehabt hätten. Masken und Schutz, oder zumindest die Möglichkeit, das eigene Gesicht abzudecken, hätte es zwar auch vor 50 Jahren schon gegeben. Nur schickte sich das nicht. Eishockeyspieler galten als hart, Eishockeytorhüter als härter. Es wurde als gute Idee angesehen, sich den fliegenden Pucks ohne Helm entgegenzustellen.

      Natürlich wurden Torhüter im Gesicht getroffen, das musste aber nicht bedeuten, dass sie sich auswechseln ließen. Heute würde man das unter einem besonders krassen Fall toxischer Maskulinität subsummieren. Damals war es normal, auch weil der Schlagschuss noch nicht erfunden war. Das übernahm Bernie Geoffrion, ein Stürmer, der in Montreal immer im Schatten von Maurice Richard stand, den sie The Rocket nannten. Dabei war es seine Art zu schießen, die die NHL zu einer Regeländerung bewegte.

      Geoffrion zog auf und knallte die Pucks links und rechts an den beinahe ungeschützten Torhütern vorbei ins Tor. Wohl auch aufgrund seiner Trefferquoten führte die NHL ein, dass Zwei-Minuten-Strafen in dem Moment zu Ende waren, in denen die gegnerische Mannschaft traf. Zuvor hatten die Montreal Canadiens ihre Gegner meist im erstbesten Powerplay demoralisiert. Geoffrion traf selten nur einmal, weshalb man ihn irgendwann mit dem Kosenamen Boom Boom Geoffrion feierte.

      Al Iafrate: Er trug Tattoos, als es noch nicht cool war, Tattoos zu tragen. Zum ersten Training nach dem Sommer brummte er auf einer Harley heran und trug nichts als Boxershorts. Und als er später seine Schläger präparierte, in einer Hand stets eine Kippe, trug er noch nicht einmal mehr die Boxershorts. „Mich“, sagte er einer Reporterin der Washington Post, „gibt es nur einmal.“ Und auch wenn nicht alles, was er sonst so von sich gab, Sinn ergab, damit hatte Alberto Iafrate recht.

      Der Mann, den sie Big Al nannten, Wild Thing und The Planet, war tatsächlich einzigartig in einer Liga, in der stets nur die Mannschaft, nur die Kameradschaft zählt und jungen Spielern jeglicher Individualismus aberzogen wird. So Rock‘n‘Roll war die NHL nie zuvor gewesen und wird sie vielleicht auch nie wieder sein, wie in den 870 Spielen, in denen der US-Amerikaner sein Können vorführte. Iafrate war schnell wie Rocket Richard, hatte einen Körper wie ein Linebacker und er konnte so hart und schnell schießen wie kein Zweiter. Am Ende kam er auf vier Teilnahmen an All-Star-Spielen, bei all seinen Klubs gilt er als Kultspieler, sogar bei den Boston Bruins, für die er nur 12-mal auflief, dabei aber fünf Tore schoss und acht auflegte.

      Nicht schlecht für einen Spieler, der zwischen seinem Draft und seinem ersten Spiel in der NHL mit seinen Kumpels auf der Polizeiwache gelandet ist, weil er sich mit dem Türsteher eines Stripklubs angelegt hatte, und der sich nicht wenige seiner Tattoos selbst gestochen hat. 20 Jahre später wäre Iafrate mit seinem Talent und seiner Persönlichkeit ein Superstar gewesen. In einer Zeit aber, in der „Freigeist“ keinesfalls als Kompliment verstanden wurde, wurde der Mann mit dem Vokuhila und der kahlen Stelle am Hinterkopf außerhalb der Kabine als Freak angesehen. Nur beim All-Star-Spiel 1993 galt ihm die volle Aufmerksamkeit: Iafrate entschied den Schusswettbewerb für sich, er beschleunigte den Puck auf 169,3 km/h – mit einem Holzschläger. Trotzdem war es 16 Jahre lang Weltrekord.

      Denis Kulyash: Eishockey wird in Russland amerikanischer inszeniert, als man das in Amerika jemals für möglich gehalten hat – und ein bisschen wilder. Beim Ska St. Petersburg gibt es nicht nur ein Maskottchen, es gibt vier. Als AK Bars Kazan während einer Aussperrung in der NHL Stars des Welteishockeys in die Republik Tatarstan holte, hatte der Klub zwar ein höheres Spielerbudget als die vermeintliche Konkurrenz in Nordamerika, die Spieler aber hatten keine Handtücher, um sich den Schweiß aus den Gesichtern zu wischen.

      Bären, Adler und Tiger wurden dem Publikum vor Spielen auf dem Eis vorgeführt, lebende Bären, Adler und Tiger. Und die Geschichten von achtwöchigen Trainingslagern in den „Bazas“, mitten im Nichts, erzählen manche Importspieler auch nach Beendigung ihrer Karrieren mit zitternder Stimme. Das Eishockey ist natürlich trotzdem großartig und im Einzelfall auch gewaltig.

      Im Rahmenprogramm


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