Familie Dr. Norden Classic 46 – Arztroman. Patricia Vandenberg
alles einstecken, aber sie war froh, überhaupt etwas zu verdienen und ihre bescheidene kleine Wohnung bezahlen zu können. Es war ja nur ein Einzimmerappartement mit einer winzigen Küche und einem ebenso winzigen Bad. Da hatte sie Jürgen auch nicht mitnehmen können und sich damit herausgeredet, daß ihr Vermieter keine Herrenbesuche dulde.
Sie hatte immer wieder gelogen, nicht nur Jürgen gegenüber. Jetzt erst wurde ihr bewußt, daß sie sich in eine Scheinwelt hineingelogen hatte. Wie hätte sie ihm erklären wollen, daß sie Telefonistin war und nicht eine vermögende Erbin, die allerdings noch nicht ganz über ihr Erbe verfügen könne. Durfte man einen Menschen, an dem einem viel lag, überhaupt so belügen? War es nicht die gerechte Strafe, daß er auch nicht ehrlich zu ihr gewesen war und sie nur als eine kostenlose Putzfrau betrachtete?
Sie zuckte zusammen, als die Tür geöffnet wurde.
Schwester Klara kam herein. »Ich wollte nur mal nach Ihnen sehen«, sagte sie, »wir haben nämlich einen Notfall. Brauchen Sie etwas?«
»Nein, ich brauche nichts. Sie haben sicher genug zu tun.«
»Das kann man sagen. Ein schwerer Reitunfall. Ich sage es ja immer, daß Sport auch Mord ist.«
»Manchmal kann man aber auch nichts dafür.«
»Sie konnten nichts dafür, aber es zwingt einen doch niemand, sich auf einen wilden Gaul zu setzen.«
Martina wollte nichts dazu sagen, aber sie hatte sich immer gewünscht, auch reiten zu können. Sie liebte Pferde und fand, daß es ein schöner Sport war. Sie liebte Tiere überhaupt, auch einen Hund hätte sie gern gehabt. Ja, Wünsche hatte sie genug, aber erfüllt hatte sich bisher nur der eine, daß sie sich ein gebrauchtes Auto kaufen konnte und das war nun auch völlig kaputt.
Wie hieß doch der Mann, der den Unfall verursacht hatte und alles regeln wollte? Sie kam nicht auf den Namen, und sie glaubte auch nicht daran. Das waren bestimmt wieder solche Versprechungen, die nicht gehalten wurden.
Ein eigenartiges Gefühl nahm sie gefangen, verursachte ihr Unbehagen, weil ihr immer deutlicher bewußt wurde, wie oft sie gelogen und andere getäuscht hatte. Da konnte es auch keine Rechtfertigung sein, daß sie sich damit nicht etwa finanzielle Vorteile verschaffen wollte, sondern eben nur Beachtung erhoffte. So gern wollte sie einflußreiche Freunde haben, schön und elegant sein und bewundert werden, aber es war so gewesen, daß man sie meistens durchschaut hatte, über sie lächelte oder ihr gar aus dem Wege ging. Es hatte überhaupt keinen Sinn, da etwas zu beschönigen zu wollen. Es mußte erst dieser Unfall geschehen, damit sie zu der Erkenntnis kam, daß man ein Leben nicht auf Lügen aufbauen konnte.
Ich werde nie mehr lügen, dachte sie.
Später schaute Schwester Anni herein.
»Sind Sie wach, Martina?« fragte sie.
Martina hatte darum gebeten, mit dem Vornamen angesprochen zu werden. Nicht alle hielten sich daran, aber Anni war im gleichen Alter wie sie, unbefangen und meist gut gelaunt.
»Ich würde gern ein bißchen Musik hören oder etwas lesen«, erwiderte sie.
»Wie wäre es mit einem Besuch? Frau Burgmüller fragt, ob sie mal guten Tag sagen dürfe. Sie möchte gern herausfinden, ob Sie verwandt sind.«
Martinas Herz tat einen schnellen Schlag. Niemand konnte ihr nachsagen, daß sie diejenige gewesen sei, die sich bei den reichen Burgmüllers einschmeicheln wollte. Eigentlich wußte sie gar nicht genau, ob sie wirklich Verwandte waren. Gewünscht hatte sie sich das auch, aber nie den Mut gehabt, sich mit ihnen bekannt zu machen.
»Ich würde mich freuen«, sagte sie jetzt stockend.
Als Heidelinde Burgmüller das Krankenzimmer betrat, begann Martinas Herz schneller zu schlagen. Freudiges Staunen bewegte sie. Heidelinde gefiel ihr sofort, und ihr freundliches Lächeln machte Martina Mut.
»Ich bin Heidelinde Burgmüller, geborene Marein, zweiundfünfzig Jahre. Mein Mann hieß Herbert. Das möchte ich vorausschicken, da wir ja erst einmal feststellen müssen, wie wir verwandt sind. Als ich von Ihrem Unfall hörte und auch, daß Sie in München leben, war ich bestürzt, daß wir nichts voneinander wußten, wenn Sie die Tochter von meines Mannes Cousin Ludwig Burgmüller sind. Erzählen Sie mir bitte etwas über Ihr Leben, Martina. Ich weiß kaum etwas von Ludwig Burgmüller und seiner Familie.«
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