Ein Tag mit der Liebe. Mohsen Charifi

Ein Tag mit der Liebe - Mohsen Charifi


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nicht akzeptieren, weil irgendetwas sie daran störte. Sie empfand diesen Austausch von Gedanken über die Gleichheit von Stühlen und die Verschiedenheit von Liebe als eine Schlacht, die sie nicht verlieren wollte. Sie war entschlossen, es mit diesem Kampf aufzunehmen, wollte dabei aber gleichzeitig ruhig und gelassen wirken, doch ihre aufeinandergepressten Lippen und das gerade noch wahrnehmbare Kopfschütteln verrieten ihre innere Unruhe. Nun setzte sie sich auf einen Baumstamm und forderte Liebe mit einer Handbewegung auf, sich auch hinzusetzen, was Liebe dann auch tat.

      Eine lange Weile verging, ohne dass ein Blick gewechselt wurde oder ein Wort fiel. Verliebtheit stellte sich viele, viele Situationen und Menschen vor, Frauen und Männer, Kinder und Erwachsene, Künstler und Arbeiter, berühmte und einfache Leute, Reiche und Arme … und sie stellte fest, dass sie alle, aber auch wirklich alle in dieser oder jener Situation ‚Ich liebe dieses oder jenes‘ sagen und in der Tat jedes Mal etwas anderes meinen. Also musste sie Liebe recht geben. Etwas in ihr wehrte sich jedoch noch immer dagegen und sie spürte ein großes Unbehagen. Dieses Mal aber kam ihr Unbehagen von der Sache selbst und nicht nur daher, dass sie recht behalten wollte. Ihre Erfahrungen und Erlebnisse hatten sie etwas anderes gelehrt. Aber was? Sie wollte das in Worte kleiden, was sie ohne Worte spürte, doch es gelang ihr nicht.

      Dann schlug plötzlich der Blitz der Erkenntnis in ihren Geist ein, sie schrie aus ganzem Herzen auf und ihr Gesicht strahlte vor Freude:

      „Das ist es doch, das ist es!“

      Liebe war überrascht über die heftige Reaktion von Verliebtheit, doch beglückt über ihre Freude.

      „Was hast du entdeckt?“

      „Einiges! Aber wo fange ich am besten an, dort, wo du recht hast, oder dort, wo du dich irrst?“

      Mit einer Handbewegung überließ Liebe Verliebtheit die Entscheidung.

      „Gut, du hast natürlich recht, dass die Menschen in verschiedenen Situationen und über verschiedene Dinge ‚Ich liebe…‘ sagen, obwohl jedes Mal ein anderer Gedanke oder ein anderes Gefühl dahintersteht. Natürlich ist ‚Ich liebe Gott‘ etwas ganz anderes als ‚Ich liebe Erotik‘, da hast du recht. Doch schau, auch wenn ‚Ich liebe‘ sich auf so viele verschiedene Sachen bezieht, so teilen sie doch alle eine Faszination von Schönheit, ein Begehren, eine Zuneigung, ein Aneignen und Habenwollen. So gesehen haben alle Formen von ‚Ich liebe‘ auch etwas Gemeinsames und daher sind sie auch wie die Stühle ihrem Wesen nach gleich.“

      Verliebtheit warf Liebe einen triumphierenden Blick zu.

      Liebe, über alle Maßen von diesen scharfsinnigen Gedankengängen von Verliebtheit begeistert, sagte erfreut:

      „Bravo, gut gemacht. Ich freue mich sehr, dass du selbst durch Nachdenken eine wichtige Erkenntnis über die Menschen gewonnen hast.“

      Verliebtheit, die immer noch mit einem triumphalen Schmunzeln Liebe anschaute und die ihr schmeichelnde Bestätigung genoss, erwiderte vergnügt:

      „Ich muss mich auch mal loben, denn nach all den traurigen Geschichten mit meinem Rucksack hätte ich auch nicht gedacht, dass ich so schnell das Wesen der Liebe erfassen würde.“

      Als Liebe das hörte, schob sich Nachdenklichkeit vor ihre Freude. Sie richtete ihren Blick an Verliebtheit und an den Bäumen hinter ihr vorbei und schwieg.

      Diese Reaktion verunsicherte Verliebtheit ein wenig. Deshalb fragte sie mit einem leichten Kribbeln im Bauch:

      „Stimmt etwas nicht? Eben warst du doch noch so begeistert und fröhlich. Hat sich daran etwas geändert?“

      „Ja, stimmt. Ich hatte mich sehr über deine Erkenntnis gefreut, doch ich merke gerade, dass hier vielleicht ein Missverständnis vorliegt. Was du erkannt hast, ist das, was Menschen unter Liebe verstehen, aber nicht das, was Liebe selbst ist.

      Was du erkannt hast, ist zwar sehr wertvoll und wichtig, doch es sagt nur etwas über die Menschen und nichts über die Liebe selbst aus. Und in der Tat ist das, was die meisten Menschen unter Liebe verstehen, etwas ganz anderes als das, was ich als Liebe verkörpere.“

      Der leere Blick von Verliebtheit, ihre Sprachlosigkeit und Enttäuschung waren nicht nur deutlich sichtbar, sondern sogar verständlich. Denn das Wesen der Liebe war dem Wesen der Verliebtheit noch nicht zugänglich und weit von ihr entfernt. Nicht aus bloßem Trost, sondern um Verliebtheit aus ihrer Sprachlosigkeit zu befreien, schlug Liebe vor:

      „Lass uns gemeinsam schauen, was Schönheit und Grün bedeuten, dann wird es klarer, was ich meine, wenn ich vom Wesen der Dinge spreche. Vor allem wird dann auch klarer, warum es nicht nur dir, sondern jedem Menschen schwerfällt, das Wesen der Dinge zu erfassen, ganz zu schweigen vom Wesen der Liebe. Schau, du, ich und jeder andere weiß, dass Gras und Bäume grün sind, weil wir das Grün sehen. Ein Mensch, der blind geboren ist, wird zwar auch wissen, dass Gras und Bäume grün sind, aber er wird keine Vorstellung davon haben, was Grün ist, weil er Grün nie gesehen und erlebt hat. Doch auch wer nicht blind ist und das Grün sieht, kann trotzdem nicht beschreiben, was Grün ist. Du siehst: Sowohl dem Blinden als auch dem Sehenden bleibt das Wesen des Grüns verborgen. Du erinnerst dich, Menschen haben Worte erfunden, um die Dinge zu benennen, und zu mehr sind Worte nicht imstande. Das Wort ‚Grün‘ ist eben nur ein Name, eine Bezeichnung, die Menschen verwenden, um eine Farbe von anderen Farben zu unterscheiden, doch das Wort ‚Grün‘ beschreibt nicht das Wesen des Grüns. Genauso ist es mit der Schönheit. Auch die Schönheit der Blumen, der schwarzen Augen und der Sonnenuntergänge ist mit Worten nicht zu erfassen. Ich hoffe, jetzt ist eher verständlich geworden, was ich damit meine, dass das Wesen der Dinge verborgen und schwer zu beschreiben ist. Vielleicht kannst du dir den Unterschied, was Liebe an sich und in Wahrheit ist, und was es heißt, wenn Menschen von Liebe reden, so vorstellen: Das Licht, dem die Pflanzen, Tiere und Menschen ihr Leben verdanken, kommt von der Sonne, doch es ist nicht die Sonne selbst. Auch die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, einer Frau zu ihrem Mann, die erotische Verschmelzung und der Zauber eines Sonnenuntergangs sind Strahlen von der Sonne der Liebe, doch nicht die Liebe selbst.“

      Der Gesichtsausdruck von Verliebtheit vermittelte Fragen, weshalb Liebe diese Gedanken noch weiter vertiefte.

      „Um noch einmal auf deine Erkenntnis zurückzukommen: Es ist richtig, dass alle Arten von ‚Ich liebe‘ mehr oder weniger etwas Gemeinsames vermitteln wie Begehren, ein Bejahen oder etwas schön und zauberhaft zu finden, sogar etwas haben, gar besitzen zu wollen. Liebe in ihrer Ganzheit und Vollkommenheit ist jedoch etwas ganz, ganz anderes als ‚Ich liebe dieses oder jenes‘. Liebe ist viel, viel mehr als all das, was wir aufgezählt haben – mehr als Liebe zu Gott und mehr als Liebesnächte und mehr als die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind und als die Anziehung schöner Augen. All das ist ein Becher, der mit dem Wasser aus dem Ozean der Liebe gefüllt ist. Liebe aber ist der Ozean selbst, mit unendlichen Ufern und unendlichen Tiefen, und jeder bekommt von diesen Ozean so viel, wie in den Becher hineinpasst, den er mitbringt.“

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       Die Geburt der Macht

      Der Weg, den Liebe und Verliebtheit entlanggingen, führte zu einer hölzernen Brücke über einen flachen Bach mit klarem und sanft plätscherndem Wasser. Die Ufer waren dicht mit Schilf und Gräsern, mit Brennnesseln und wilden Blumen bewachsen. Sonnenstrahlen schienen durch die Blätter bis zum Bachbett und bunt schimmernde Libellen schwirrten in alle Himmelsrichtungen. Ein kleines Stück Paradies. Als Liebe und Verliebtheit an dieser Brücke ankamen, blieben sie, als hätten sie es abgesprochen, stehen, lehnten sich über das Geländer und verfolgten das Treiben rund um den Bach.

      Im Vergleich dazu, was Liebe sein könnte, die Sonne, so unerreichbar fern, der Ozean, so unendlich groß, kam sich Verliebtheit so klein und nichtig vor und flüsterte vor sich hin:

      „Ich bin wohl immer noch da, wo ich schon immer gewesen bin und weit von der Liebe entfernt.“

      „Oh nein, du hast schon den ersten


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