ZWEITAUSENDVIERUNDACHTZIG. Gisbert Haefs

ZWEITAUSENDVIERUNDACHTZIG - Gisbert Haefs


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einmal Huxleys »Brave New World« lesen …

      Oder eben diese Anthologie.

      Rainer Schorm & Jörg Weigand

      Freiburg, Frühling 2020

      Journalism is printing

      what someone else does not want printed.

      Everything else is public relations.

      Auf gut Deutsch:

      Journalismus ist, das zu drucken,

      was jemand nicht gedruckt haben will.

      Alles andere ist Public Relations.

      George Orwell zugeschrieben …

      

      

      Werner Zillig: Das Vermächtnis des Großen Bruders

      1

      Manchmal frage ich mich, wann diese politische Katastrophe, die sich nun fortsetzt, begonnen hat. Viele werden sagen, sie hat mit mir begonnen. Ich selbst glaube, dass man unterscheiden muss nach Anzeichen und realen Ereignissen. Das wichtigste Anzeichen ist für mich in der Rückschau: dass seinerzeit die großen Zeitungen alle verschwunden sind. Die kleinen Zeitungen natürlich sowieso. Die Zeit, die Frankfurter Allgemeine, die Süddeutsche, der Spiegel – innerhalb von zwei Jahren hat es sie nicht mehr gegeben. Anrührend war der Versuch von Spiegel und Süddeutscher Zeitung, ihre Redaktionen in Berlin zusammenzulegen. Da war die Anzahl der Leser dieser beiden schon auf insgesamt vierzigtausend zusammengeschrumpft. Wenn man bedenkt, dass gut dreißig Jahre vorher noch fast fünfzehn Millionen Tageszeitungen und vier Millionen Wochenzeitungen verkauft worden sind – was hat sich da in kurzer Zeit alles verändert!

      Bei den realen Ereignissen war der ›Fast-Bürgerkrieg‹ die entscheidende Zäsur. So hat der Spiegel diese Straßenkämpfe in seiner letzten Ausgabe ja genannt. Nun gut, in dieser Zeit habe ich tatsächlich die Macht übernommen. Aber war ich wirklich der Auslöser des großen Zusammenbruchs oder nur ein kleiner Indikator auf dem Weg dahin? Einer, der den Zusammenbruch eine Zeit lang verhindert hat? Eine ganz andere Art eines realen Ereignisses waren die drei überkalten Winter, mit denen niemand in den Zeiten des Global Warmings gerechnet hatte. Und die Abkühlung in Mitteleuropa hält an. Heute sind die Wissenschaftler sicher, dass die Erdkugel sich weiter erwärmt, während der schnelle Zusammenbruch des Golfstroms Mitteleuropa bald eine veritable Eiszeit – na gut, sagen wir eine schlimme Kaltzeit beschert. Dass das Weltklima in so kurzer Zeit vollkommen verrücktspielt, damit hat niemand gerechnet. Es ist wie ein Fanal, real und vollkommen unbegreiflich. So müssen sich die Menschen im ausgehenden Mittelalter gefühlt haben, damals als die Pest ausgebrochen ist.

      2

      Sie nennen mich jetzt den Großen Bruder. Das haben mir meine Anhänger, die wenigen, die sich noch in Freiheit befinden, gestern zugetragen. Einige also haben sich doch retten können. Wie die Botschaft in meine Zelle – Verzeihung! – mein Zimmer gekommen ist, darüber will ich nicht nachdenken. Denn wenn ich darüber nachdenke, dann habe ich diese Verbindung nach draußen verloren. Meine Gedanken werden von den Guten, die jetzt an der Macht sind, nahezu lückenlos überwacht. Könnte ich ruhig und konzentriert denken wie früher, würde ich darüber sprechen, wie doch die Menschen danach gieren, andere, vor allem wenn diese anderen erfolgreich waren, als böse und gemein hinzustellen. War ich böse? Sie werden die zurückliegenden Jahre schon ins rechte Licht rücken. In ein Licht, das sie mit einem Glorienschein umgibt und mich als Schurken dastehen lässt. So habe ich es erwartet, so ist es gekommen.

      Als Prophet war ich immer gut.

      Das mit dem Großen Bruder ist offenbar eine Erfindung von Eric Ode, den die neuen Machthaber, die Guten, dazu ausersehen haben, die Geschichte meiner abgrundtief bösen Alleinherrschaft zu schreiben.

      Und ich? Noch sitze ich hier, in meinem Weißen Zimmer, dieser Gefängniszelle, die ich nicht Zelle nennen darf. Mein Zimmer, in dem wirklich alles weiß ist. Der Boden, die Wände, das Bett, die Toilette. Sogar die Gitterstäbe sind weiß. So sehr weiß ist meine gesamte Umgebung, dass sich schon nach knapp zehn Tagen in diesem Raum am Rande des Wahnsinns war. Aber diese subtile Folter hat ihr Ziel nicht erreicht. Mein Verstand ist nicht gekippt, und also bin ich nicht wahnsinnig geworden. Das war ihre Absicht. Dass ich wahnsinnig werde und mit Grimassen und wahnsinnigem Augenrollen im Gerichtssaal auftrete. So ist es nicht gekommen, aber das ist auch nicht mehr wichtig.

      Vorgestern ist das Urteil gefallen, es gab nur diese eine Instanz, und morgen werde ich für den Rest meines Daseins in das Schwarze Zimmer gebracht. Ich nehme an, dass es nicht länger als drei Tage dauert, bis ich nur noch ein mittelgroßes Tier bin, eingesperrt, vegetierend, bis es dann irgendwann, es wird nicht lange dauern, mit mir zu Ende geht.

      Die Todesstrafe haben sie, weil sie die Guten sind, abgeschafft, wohl wissend, dass das Schwarze Zimmer mir und den anderen in meiner Lage schnell den Tod bringt, ohne dass sie mich selbst umbringen müssen. Was für eine elegante Lösung! Menschen in schwarzen Räumen schnell verwelken zu lassen, statt sie selbst zu töten.

      3

      Das Denken fällt mir inzwischen wirklich sehr schwer. Meine Erinnerungen sind wie kalter Honig, so sehr erstarrt, dass ich sie nur noch in Brocken abschlagen und formulieren kann. Also rekapituliere ich, was geschehen ist, diese schlimmen zehn Jahre, in denen ich versucht habe, den Untergang des Landes abzuwenden.

      Die Menschen konnten sich eine wahrhaft wahnsinnige Gesellschaft nicht mehr vorstellen. Dabei hätten sie nur die Kommentare zu Zeitungsartikeln lesen müssen. Wie viel Hass und Rechthaberei sich da schon vor zwanzig Jahren Bahn gebrochen hat. Wo waren wir denn vor zehn Jahren? Die Auseinandersetzungen, ausgehend von Berlin und Hamburg, wurden zusehends stärker. Am Anfang, als die Wirtschaft noch einigermaßen funktionierte, schien alles halb so schlimm. Aber es dauerte nur knapp zwei Jahre, und dann ging es mit diesen dreiundzwanzig politischen Morden innerhalb von knapp zwei Monaten wirklich los. Sie waren so sehr verwöhnt, unsere Bürger, durch hundert Jahre Frieden.

      Auf einmal aber – Europa war auseinandergefallen. Nicht nur die EU, die natürlich sowieso. Auch die Vorstellung, dass es so etwas wie ein politisches Europa überhaupt geben könnte.

      Und die deutschen Bürger, am wenigsten die ideologisch herrschende Klasse, also die Besserwisser – die Besserwisser konnten nicht glauben, dass ihr Land wieder wahnsinnig wird. Bis zuletzt, bis zu der Nacht auf den 24. August, dem Tag, als der Bundeskanzler umgebracht wurde, wollten sie es nicht glauben.

      Aber dann, auf einmal war er da. Der Bürgerkrieg in den Straßen war da und breitete sich in wenigen Tagen über das ganze Land aus. Unsere feinsinnigen Feuilletonschreiber, die sich allerdings schon seit längerer Zeit nicht mehr liberal zu nennen wagten, sie standen fassungslos da und beschworen die Aufklärung, das friedliche Miteinander, den inneren Frieden, den es längst nicht mehr gab.

      Und ich, wer war ich damals?

      Ein kleiner Provinzpolitiker in Niedersachsen, den keiner kannte. Ich habe mich mit einigen Freunden in Hannover in einer Kneipe zusammengesetzt, und wir haben die Lage sachlich analysiert, auch wenn das mit dem Sachlichbleiben schwerfiel. Wir waren sechs Frauen und fünf Männer, und am Ende des Abends hat eine Frau, eine von den Stillen in der Runde, auf einmal das Wort ergriffen und vorgeschlagen, dass ich die Sache mit dem neuen Programm und der neuen Partei in die Hand nehmen sollte.

      Uns allen war damals klar, dass es ohne eine groß angelegte und lückenlose Überwachung der verschiedenen gewalttätigen politischen Strömungen, die das Land zerrissen, nicht ging.

      Ich habe mich hingesetzt und habe in einer einzigen Nacht dieses Zwölfpunkteprogramm entworfen. Natürlich war das ein Notstandsprogramm, was hätte es denn anders sein sollen? Ich habe niemanden bevorzugt, nicht die Linken und nicht die Rechten, nicht die Anhänger des Islam und nicht die, die seit zehn Jahren für ein radikales Christentum eintraten. (Das war die große


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