ZWEITAUSENDVIERUNDACHTZIG. Gisbert Haefs
Regierung der Guten nicht verraten, wie ich meine kleine Anhängerschaft draußen erreiche und unterrichte.)
Es ist eine Voraussage. Das Land wird sich kurzzeitig erholen, sie werden mich zum Diktator aufbauen, zur Abschreckung. Und dann, spätestens nach zehn Jahren, wird der Bürgerkrieg mit seiner vollen Wucht und Kraft zurückkommen und die gesamte Ordnung im Land zerstören. Die guten Menschen werden sich in ihren Exklaven einrichten. Über einige Zeit hin werden sie Überwachungsmannschaften gut entlohnen, aber dann werden die unzufriedenen Bürger diese Exklaven belagern und einnehmen. Da werden die Guten längst zu meinen Methoden zurückgekehrt sein, und was die Überwachung angeht, werden sie mich bald übertroffen haben.
Eric Ode freilich wird die ganze Sache anders beschreiben. Er wird sie als alternativlos überliefern. Er ist nun einmal ein großer politischer Schriftsteller. Einer, der die großen Zusammenhänge zu schildern weiß.
Noch einmal mit meiner Gabe der Prophetie: Wenn alle Ordnung zerfallen ist, wird sich eine Frau finden, die sich an die Spitze setzt und die dann wirklich zeigen wird, wie man eine Diktatur entwirft, einrichtet und durchsetzt. Ich werde da schon nicht mehr leben. Ich werde als der Große Bruder in die Geschichte eingehen, der Mann, der das Unglück über das Land gebracht hat.
Entspricht das der Wahrheit? Was ist schon Wahrheit? Es gibt die Wahrheit von Eric Ode und es gibt die meine.
16
Ich bin im Schwarzen Zimmer angekommen, und nichts von meinem Denken wird mehr nach draußen dringen. Mein Schwarzes Zimmer nimmt mich auf, saugt mich aus, verwandelt mich zuerst in ein tiefes Nichts, um mich dann als leere Hülle den Wänden einzuverleiben. Irgendwann werden die Wächter die Türen aufmachen, um mir meine kleine Mahlzeit auf den Boden zu stellen, und sie werden verblüfft feststellen, dass ich nicht mehr existiere. Sie werden den Gefängnisdirektor anrufen, nervös, aber sehr diszipliniert. Sie werden feststellen, dass ich verschwunden bin, und der Direktor wird sich unverzüglich zu meiner Zelle begeben und nicht mehr tun können, als den Bericht seiner Wächter zu bestätigen.
Die Nachricht wird an die Frau Kanzlerin gehen, und weil die das alles längst vorausgesehen hat, wird sie in die Schublade greifen und einen tatsächlich gedruckten Maßnahmenplan hervorholen.
Als Allererstes wird die Öffentlichkeit unterrichtet werden, dass der vormalige Große Bruder in seiner Zelle in Berlin-Moabit verstorben ist. Ungefähr fünfzig meiner Anhänger werden sich, alt und kraftlos geworden, an einem geheimen Ort in Norddeutschland zu einer kleinen Gedenkveranstaltung versammeln und sich am Ende sinnlos betrinken.
Am nächsten Tag wird sich eine kleine Arbeitsgruppe aus dem Kanzleramt daran machen, dem Volk alles zu erklären. Die Regierungssprecherin wird eine Nachtsitzung anberaumen. Der erste Satz der Erklärung wird lauten: »Politik in Zeiten der Gefahr dient vor allem dem Ziel, ein Volk vor dem Bösen, das tief unten in ihm ruht, zu beschützen.« Der letzte Satz wird lauten: »Wir haben das Böse, wir haben den Großen Bruder besiegt!« Sie werden noch eine Zeit lang überzeugt sein, dass das Gute gewonnen hat. Dann aber, wenn diese Frist abgelaufen ist, wird der Albtraum beginnen. Jener Albtraum, den ich über zwanzig Jahre lang von diesem Land abgewendet habe.
Thomas Le Blanc: Hochzeitsvorbereitungen
Silvia war überglücklich. Vor einem halben Jahr hatten sie sich beim alljährlichen Reutlinger Friedensfest kennengelernt, sie hatte sich hoffnungslos in diesen Freigeist verliebt, der es wagte, beim Liebemachen den Ton des Staatsfernsehens leiser zu drehen, damit sie seine Schmuseworte hören konnte. Schon zwei Monate später waren sie zusammengezogen und hatten fortan gemeinsam in seiner Werkswohnung in Mössingen gewohnt, das noch zur Reutlingen-Regio gehörte, wodurch sie alle Vorteile des städtischen Sozialverbunds genoss. Und gestern hatte Roderich tatsächlich die etwas altmodisch gewordene, aber immer noch beglückende Frage gestellt, ob sie ihn heiraten wollte. Sie hatte auf ihr Herz gehört und sofort ja gesagt.
Heute am Morgen beim Aufstehen war sie erfüllt von ihrem Glück, aber dennoch vernünftig genug, um die Hochzeitsvorbereitungen mit dem Gang zum Gesoa, zum Gemeinschaftlichen Sozialamt, zu beginnen. Denn natürlich musste sie wissen, welche Neueinstufungen sich durch die Änderung ihres zivilen Status ergaben und welche Verpflichtungen sie künftig zusammen für ihr Gemeinwesen, die VSE, die Vereinigten Staaten von Europa übernehmen konnten.
Das Gesoa-Gebäude befand sich in Reutlingen in dem neuen Komplex gleich hinter dem Bahnhof; es war ein gigantisches Gebäude, weil es das einzige Amt beherbergte, in dem noch Menschen als Ansprechpartner arbeiteten, denn bei allen anderen kommunizierte man nur noch mit einem elektronischen Terminal. Sie wurde vom Eingang aus zu einem von zahlreichen schmalen Büros im achten Stock geleitet und sah am Türschild, dass ihr Sachbearbeiter Gernot Weber hieß.
Kaum hatte sie sich ihm gegenübergesetzt, da sprudelte sie schon heraus, dass sie zu heiraten beabsichtige und dieses Ereignis zum Anlass nehmen wolle, ihre verschiedenen aktuellen Scores durchzugehen und möglicherweise zu optimieren und außerdem ihren Partnerschaftsscore in einen Ehescore umzubeantragen.
»Das passt recht gut, Frau Silvia Rosenheim, Ident 20620317FF00-EUDE08416048-0059-14335, dass Sie heute bei uns vorsprechen.« Der Sachbearbeiter ließ sich von ihrer quirligen Gemütslage nicht beeindrucken, sondern schaute stoisch auf sein Deskterminal. »Wir müssen Ihnen einige Scoreanpassungen zur Kenntnis geben; Sie können dazu gerne Stellung beziehen, und wir können Ihnen auch Strategien anraten, einzelne Scorewerte zu verbessern.«
Er reichte ihr eine Datenkarte aus stabiler Pappe und erläuterte gleichzeitig: »Ihr Einkaufsscore hat sich auf unter achthundert vermindert, Ihr Sozialscore ist nur deshalb stabil geblieben, weil Sie weiterhin gemeinschaftsfördernd Ihre Mutter pflegen – eigentlich hätte er deswegen ja deutlich steigen müssen, Ihr Politikscore ist auf sechshundertfünfzig geradezu abgestürzt, und wegen Ihres Wohnungsscores haben wir Sie bereits angeschrieben, aber leider keine Reaktion erhalten.« Er sah sie auffordernd an. »Um Ihren Fragen gleich vorab zu begegnen: Alle Veränderungen ins Negative beruhen nicht auf eigenen Handlungen, sondern sind mittelbare Veränderungen, weil wir die Handlungen Ihres Lebenspartners, wenn auch mit Ausgleichsfaktoren gewichtet, auch Ihnen zurechnen müssen.«
»Was soll er denn getan haben?«
»Er soll nicht, er hat aus seiner Etathälfte der für den gemeinsamen Haushalt erworbenen Lebensmittel mehrfach Joghurtsorten mit einem Fettfaktor oberhalb dreieinhalb Prozent und-oder einem Zuckergehalt von über sieben Gramm pro hundert Gramm eingekauft, die – wie sich über die Befüllung der gelben Tonne vor Ihrem Haus nachweisen lässt – von Ihnen gemeinsam auch verzehrt worden sind. Er hat des Weiteren mehrfach blutiges Realfleisch statt Sojaimitationen eingekauft, Tiefkühlpizza ohne Kalorienreduktion, außerdem Vollfettkäse von nicht glücklichen Kühen. Dadurch haben Sie über die Schwächung Ihres Körpers die statistische Volksgesundheit geschädigt. Im Wiederholungsfall wird Ihr Krankenversicherungsbeitrag erhöht, aber durch das Unterschreiten der Marke achthundert beim Einkaufsscore haben Sie schon mal alle Rabattaktionen in den nächsten hundert Tagen verloren. Die schädlichen Einkäufe für die gemeinschaftliche Ernährung sind Ihnen mit einem Scorefaktor von null Komma fünf, ab der dritten Woche allerdings verschärfend mit null Komma sechs zugerechnet worden, weil Sie offenbar nicht mäßigend auf Ihren Partner eingewirkt haben. Bei seinem Einkauf von Süßigkeiten und süßen Limonaden sind wir – freundlicherweise – davon ausgegangen, dass das allein für seinen eigenen Gebrauch bestimmt war, sodass wir Ihnen den Negativwert lediglich mit dem Faktor null Komma zwei zugerechnet haben. Als Maßnahme zur Wiederanhebung Ihres Scores empfehlen wir Ihnen verstärkte Einkäufe bei schwäbischen Biobauern und vielleicht eine komplette neue Sommergarderobe bei einem lokalen Schneider, der Stoffe aus Schafzucht auf Karstböden oder Dritteweltläden verarbeitet.«
Silvia wurde mulmig zumute, als Sachbearbeiter Weber nun den Ton verschärfte.
»Ihr derzeitiger Partner erweist sich zunehmend als Sozialschädling. Uns liegen mehrere Memos von Frau Rettenberger, Alter zweiundsiebzig, und Ehepaar Birkner, fünfundsiebzig und neunundsechzig, aus Ihrem Mietshaus vor, dass