ZWEITAUSENDVIERUNDACHTZIG. Gisbert Haefs

ZWEITAUSENDVIERUNDACHTZIG - Gisbert Haefs


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dem Prekariat zugerechnet wurden. Humankapital ohne Rendite. Und die Untersuchung des Todes sollte keinesfalls mehr Aufwand bedeuten, als nötig.

      Noch nicht einmal ein Feigenblatt. Eine Lächerlichkeit!

      Venter zog ein altes Taschentuch hervor und spuckte wütend hinein.

      Draußen auf dem Gang schaltete sich das Licht ein: Billiges, grünstichiges LED-Licht, dann tanzte, wirr gestikulierend, ein Schatten an der Sichtscheibe des Büros vorbei. Ein Nachzügler auf dem Weg ins Wochenende. Vollvernetzt und verloren in seiner individuellen Virtualität. Der Kommissar nahm einen Schmalzkringel aus der Packung und biss hinein. Natürlich tat er seinem Magen damit keinen Gefallen, aber etwas anderes hatte er nicht zur Verfügung. Kaum hatte er den ersten Bissen geschluckt, kam die obligatorische Meldung:

      iFLOW:LEVEL2:ENTER:

      CONSCIOUS:reaction not necessary: VOTESTREAM//GENERAL:ACCESS:iMS:Venter.Dominik.

      ID 9990123-834747

      PRIORITY:High:official healthcare

      Language:native:german:

       Ihr Ernährungsverhalten entspricht nicht den Maßgaben des Gesundheitssystems und verletzt die Präventionspflichten.

       Zucker-, Fett- und Kohlenhydratlimit überschritten. Die Zusatzprämie steigt um null Komma null vier Prozent.

      VOTE: not possible

      Appendix: Zusatztarif Xb.Gesundheitskasse SanityPool.

      Your partner for a long and healthy life!

      Venter seufzte und vertiefte sich erneut in die Unterlagen. Er war müde, hatte aber noch nicht vor, nach Hause zu gehen. Dort wartete lediglich ein Multiplex auf ihn, der ihm gefühlte zehntausend völlig sinnfreie Kanäle mit ebenso sinnfreien Sendungen anbot, nach Wahl, wann, wo und wie lange er wollte. Dazu jede Menge Spiele, die er zumeist für hirnschreddernden Unsinn hielt.

      ›Panem et circenses‹, dachte er wütend. ›Die Spiele sind scheiße und Brot enthält Kohlenhydrate – sogar wenn's glutenfrei und vollkommen vegan ist. Zum Teufel damit.‹

      Die Akte des Toten war dünn. Viel gab es nicht über ihn zu wissen. Ein Individuum, das der Allgemeinheit auf der Tasche lag – und dies seit vielen Jahren. Abgebrochene Fortbildungen, Arbeitseinsätze, die wegen Inkompetenz oder mangelnder Akzeptanz nicht lange gedauert hatten. Malik Perwane, so der Name des Verstorbenen, hatte keinerlei Neigung gehabt, sich irgendwo oder -wie nützlich zu machen. Oder es war ihm nicht möglich gewesen. Venter war, nach all den Jahren, in denen er ähnliche Schicksale aufarbeitete, nicht mehr sicher, was davon der Realität näherkam. Letztendlich spielte es auch keine Rolle.

      Ein ernüchterndes Fazit.

      Wütend schob er die Akte nach hinten und ging zur Toilette. Die gleich darauf auflaufende Meldung ruinierte den Tag komplett.

      iFLOW:LEVEL2:ENTER:

      CONSCIOUS:reaction possible: VOTESTREAM//GENERAL:ACCESS:iMS:Venter.Dominik.

      ID 9990123-834747

      PRIORITY:High:official healthcare

      Language:native:german:

       Ihre Darmtätigkeit ist suboptimal. Die Methanproduktion ist stark überhöht und widerspricht den Vorgaben des europäischen Gesundheitspanels zum Klimaschutz. Methan wird mit doppeltem Faktor ins Portfolio der Klimagase eingerechnet. Grund ist Ihre suboptimale Ernährung – siehe iFLOW:SanityPool – healthstream, locked and backuped.

       Wären Sie bereit, sich einer für Sie positiven Änderung Ihres Lebenswandels zu unterziehen? Hilfsprogramme stehen Ihnen in der beigefügten Short-iTrack zur Verfügung. Download komplett.

       Abspielen/Teilnehmen/Akzeptieren?

      VOTE: Yes/No

      Venter übergab sich und ging dann nach Hause.

      Sperling schluckte. Wütend gab er den Extraktionsbefehl erneut ein. Das VirtualPad reagierte – endlich! Der UltraChip, der alle relevanten Daten über die Person des Verstorbenen enthielt, Sozialfiles, Gesundheitsfiles und was der Dinge mehr waren, gab Rückmeldung. Sperling atmete auf. Der Chip war intakt – immerhin. Häufig genug wurde versucht, sich der allgemeinen Überwachung zu entziehen. Ein Piepen signalisierte, dass der Extraktor einmal mehr nicht funktionierte. Die Mängel an der Ausrüstung waren ein ständiges Ärgernis. Der Pathologe verzog verärgert den Mund. Er nahm das altmodische Skalpell und setzte den notwendigen, kleinen Schnitt im linken Schlüsselbeinbereich selbst. Als er den Chip entfernte, fiel ihm eine dunkle Verfärbung des umliegenden Gewebes auf. Er stellte fest, dass es sich weder um einen nekrotischen Prozess handelte, noch um eine andere krankhafte Veränderung, die er hätte zuordnen können.

      »Was ist das, zum Teufel?«, murmelte er leise und nahm eine Gewebeprobe.

      Natürlich war ihm klar, dass er die Sparprotokolle vollkommen ignorierte, doch die sich häufenden Todesfälle der letzten Monate und das völlige Fehlen einer plausiblen Erklärung lagen ihm schon geraume Zeit schwer im Magen.

      Die Werbebotschaft lenkte ihn ab:

      iFLOW:

      voteSTREAM:LEVEL3:ENTER:

      CONSCIOUS:reaction: VOTESTREAM//GENERAL:ACCESS:iMS:Sperling.Leo

      ID 9990123-834747

      PRIORITY:middle:delay:VOTE immidiate reaction possible:

      ECONOMY:Advertising.Change.

      Download: commercial

       Hallo, Leo Sperling! Ihr neuer eBolide von Main Electric ist jetzt verfügbar! Sauber, schnell, cool und stylish! Your way to the top! Get it now!

      Credit:payment:the way you need it!

      VOTE:

      Get it: Yes / No

      Verärgert drückte er den Votestream weg. Diese Art von Ablenkung konnte er nicht brauchen. Endlich hielt er den Chip in der Hand. Er sah, dass der Schnittstellenkomplex, die den Kontakt zum Körper des Patienten herstellte, leicht verbogen war. Wahrscheinlich war dies beim Sturz geschehen. Immerhin würden die Protokolle vollständig sein. Das alte VirtualPad las den Chip ohne Weiteres ein, meldete jedoch keine Verbindung zur Transcloud. Ein Problem, das hier häufiger auftrat: No wireless access. Die Hardware war definitiv nicht mehr auf dem neuesten Stand. Nur die iFLOW-Nachrichten kamen durch. Wie immer und überall. Ohne Werbung kein Leben.

      Sperling schnalzte unwillig. Er würde die Kabelverbindung benutzen müssen. Doch zunächst interessierte ihn die sonderbare Verfärbung, die er bemerkt hatte. Dieses Phänomen war ihm neu und er hatte keine Erklärung dafür. Die Ergebnisse des Drogenscreenings waren negativ: keine Drogen, kein Medikamentenmissbrauch! Sonderbar. Die Verfärbung wirkte beinahe schon organisch – und sie verästelte sich in zahllose, immer feiner werdende Filamente. Sperling zögerte. Eine Röntgenaufnahme war in den Dienstvorschriften bei einem solchen Fall nicht vorgesehen, ein Multiscan erst recht nicht. Lediglich bei einem begründeten Verdacht auf ein Tötungsdelikt, das für andere Bürger relevant war. Dafür hatte er keinen Hinweis finden können.

      Egal!

      Er bereitete die Aufnahme vor. Und er hatte ein ungutes Gefühl dabei.

      Dominik Venter wachte schweißgebadet auf. Nicht zum ersten Mal; seit einem guten Jahr beherrschte ihn ein diffuses Gefühl der Angst. Woran das lag, hatte er bisher nicht herausgefunden. Seine Arbeit war so unbefriedigend, wie seit Beginn; daran hatte sich nichts geändert und er hatte sich an vieles gewöhnt.

      »Abgestumpft trifft’s eher«, murmelte er und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. Laken und Decke waren klamm.

      Dann erst nahm er das Rufsignal zur Kenntnis.

      Fluchend setzte er sich auf und wickelte sich in einen abgewetzten Morgenmantel.


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