ZWEITAUSENDVIERUNDACHTZIG. Gisbert Haefs

ZWEITAUSENDVIERUNDACHTZIG - Gisbert Haefs


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kalt ließ – er brauchte keine großen Zimmer –, ihn jedoch zunehmend irritierte.

      Da er aber keine logische Erklärung dafür fand, schob er die wachsende Paranoia auf seinen sich rapide steigernden Alkoholkonsum.

      Trotz aller Vorsicht war Julian längst im Fadenkreuz seiner Vorgesetzten: Nicht weniger als drei Mitarbeiter waren im letzten halben Jahr speziell auf ihn angesetzt worden, weil man zwar ahnte, dass er insgeheim Sabotage betrieb, man ihm jedoch noch nichts Konkretes nachzuweisen vermochte. Da seine Wohnsituation nachweislich etwas beengt war, kam das geschenkte Haus zur rechten Zeit ins Spiel.

      Der moderne Baustoff beinhaltete eine weitere, Julian allerdings unbekannte Möglichkeit: Ein daraus errichtetes Gebäude besaß künstliche Intelligenz und sollte in der Lage sein, die Gedanken und Emotionen seiner Bewohner aufzuspüren – und entsprechend darauf reagieren.

      Wer im Sinne des Staates Wohlverhalten zeigte, konnte durch »Wohlfühlkomponenten« – wie besonders angenehmem Schlaf mit wunderbaren Träumen, aber auch von der Firmenleitung mit höchst irdischen Geschenken, wie Wellnessurlauben in der Schweiz oder in der Karibik sowie Gratisflügen nach Las Vegas – belohnt werden.

      Wohingegen das Haus heimliche Gegner des Systems solange mit negativen Erfahrungen traktierte, bis sie entweder »zur Vernunft kamen« – oder, bei anhaltendem Widerstand, schlichtweg »entsorgt« wurden.

      Dankbar für die schmucken Häuschen – ein »Geschenk« der Firma – waren Julians kritische Kollegen dem Staatsbetrieb auf einmal innigst verbunden – trotz vorheriger Unzufriedenheit. Die verdrängten sie auf einmal, sangen Loblieder auf die Regierung; ja, waren zu unbezahlten Überstunden bereit. Etwas, was Julian nicht begreifen konnte.

      Nach zwei Monaten – Julians innerer Widerstand und sein Abscheu waren mittlerweile nicht geringer geworden, sondern weiter angewachsen und die Wände seines Hauses rückten ihm allabendlich noch bedrohlicher auf den Leib – passierte es: Seiner überdrüssig, näherten sich ihm die »gekränkten« Mauern so weit von allen Seiten an, dass ein Ausweichen seinerseits nicht mehr möglich war. Er schaffte es nicht einmal mehr, sein Bett zu verlassen.

      Verzweifelt rang Julian nach Atem, verfluchte keuchend, ehe ihm endgültig die Sinne schwanden, das mörderische Regime und – verstarb schlussendlich.

      Das neuartige Material der Hauswände hatte ihn plattgemacht.

      Als Kollegen ihn fanden, nachdem er unentschuldigt seinem Arbeitsplatz ferngeblieben war, war wieder alles wie zu Anfang: Das Haus besaß seine vorherigen Abmessungen; nichts deutete auf eine Veränderung hin.

      Neben Julians zerquetschter Leiche fand man allerdings so etwas wie sein »Vermächtnis«, nämlich einen in Schnaps getränkten Zettel mit den gekrakelten – kaum leserlichen – Worten: Künstliche Intelligenz ist Scheiße …

      

      Karla Weigand: Eliten

      Das Treffen war absolut geheim. Aus gegebenem Anlass war über die in einem armseligen Kaff in der Eifel stattfindende Zusammenkunft nichts in den Medien verbreitet worden.

      Der Grund dafür lag nicht darin, dass es sich bei den Teilnehmern um Mitglieder krimineller Banden gehandelt hätte, die ihre jeweiligen Territorien neu abstecken mussten; und mitnichten waren es Umstürzler, denen der demokratisch-freiheitliche Kurs der Regierung nicht passte: Keiner der Damen und Herren (Verhältnis sechs zu sechs) plante ein Attentat, die Aushebelung von irgendwelchen missliebigen Gesetzen oder sonst etwas Verwerfliches.

      Wozu dann die Geheimniskrämerei?

      Die Geladenen mittleren Alters, unauffällig gekleidet – die Ladys hatten auf Schmuck verzichtet – trafen in ganz gewöhnlichen Automobilen ein, einige hatten sich sogar zu Fahrgemeinschaften zusammengetan. So trafen sie an einem schönen Spätfrühlingstag des Jahres 2084 in XYhausen ein. Der Name der Ortschaft tut hier nichts zur Sache.

      »Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen, dass Sie den Weg hierher nicht gescheut haben.

      Dank unseren Spitzennavigationsgeräten, die nichts mehr mit den störanfälligen ›Navis‹ seligen Angedenkens gemein haben, die einen auch schon mal in einem See landen ließen, kann heutzutage auch noch das letzte Kuhdorf ohne Schwierigkeiten aufgespürt werden!«

      Der Redner war bemüht, seinen Vortrag ein wenig aufgelockert zu gestalten.

      »Gerade die relative Abgeschiedenheit von XYhausen war vor dreißig Jahren für die damals Verantwortlichen ausschlaggebend, die Traute zu haben, hier in der Eifel diese erfolgreiche Institution ins Leben zu rufen!

      Abgeschieden, äußerlich – von der Größe abgesehen – unauffällig und bescheiden wirkend, erfüllt diese segensreiche Anstalt heute mehr denn je ihren Zweck. Allerdings klagen die Betreiber seit Jahren über Platzmangel. Diesem abzuhelfen, indem wir uns um Finanzierungsmodelle kümmern, werden wir uns in den nächsten zwei Tagen nach Kräften bemühen.

      Unser Projekt soll schließlich nicht zum Stillstand kommen oder gar daran scheitern, dass für die jugendlichen Bewohner zu wenig Platz vorhanden wäre, nicht wahr?«

      Der Sprecher erntete beifälliges Nicken der übrigen elf Anwesenden. Alle vertraten die Meinung, einen weiteren An- und Ausbau werde man mit links hinbekommen; Geld war schließlich in den verschiedenen Töpfen genug vorhanden.

      »Derzeit besuchen dreihundertfünfzig Sechs- bis Neunzehnjährige unsere exklusive Ausbildungsstätte«, fuhr der Referent fort, ein etwa fünfzigjähriger, sehr gepflegt und durchtrainiert erscheinender Mann im dunkelgrauen Businessanzug.

      Der Minister der Bundesregierung, denn um einen solchen handelte es sich, hatte sich dem bislang noch nicht ausgerotteten Krawattenzwang, dem er leider in seinem Arbeitsalltag immer noch unterlag, dadurch entzogen, dass er einen hellblauen Seidenrolli gewählt hatte.

      Auch die anderen fünf männlichen Tagungsteilnehmer waren leger gekleidet; der eine, der mit »Kulturstrick« aufgetaucht war, hatte diesen nach einem kurzen Rundumblick im Tagungssaal unauffällig in einer Sakkotasche verschwinden lassen. Der Annahme, er sei ein Spießer, wollte er keine Nahrung geben.

      Auch die Damen, dezent geschminkt und eher schlicht frisiert, hatten auf spektakuläres Outfit verzichtet. »Nur nicht auffallen«, lautete die Devise der Anwesenden.

      Allen gemeinsam war eine bemerkenswert schlanke Figur. Über eine solche verfügten mittlerweile alle »guten Staatsbürger«. Es war selbstverständlich, sich bei der Nahrungsaufnahme zu disziplinieren. Fettleibigkeit erzeugte Krankheiten, belastete demzufolge die Krankenkassen und war daher als »unsozial« geächtet.

      Abweichungen vom Body-Mass-Index galten in höchstem Maße als unfein, ja abstoßend und zeugten nach allgemeinem Verständnis von großer Disziplinlosigkeit, ja galten in gewissem Maße auch als aufmüpfig und widersetzlich gegenüber dem Staat und seinen Gesetzen.

      Wer fett war, galt als jemand, der sich willentlich außerhalb der Gesellschaft stellte, und wurde als »unsicherer Kantonist« in Sachen Staatstreue und Loyalität gegenüber dessen Organen betrachtet. Das ging so weit, dass Eltern, die ihre Kinder zu »Moppeln« heranfütterten, mit Geldstrafen sanktioniert und von allen schief angesehen wurden.

      Speckrollen und Bauchwülste fanden sich hauptsächlich bei »Underdogs« und bei gefährlichen Individuen; wobei Letztere im besonderen Fokus des Inlandsgeheimdienstes standen.

      »Vor weit mehr als hundert Jahren«, fuhr der Minister fort, »hat die katholische Kirche den ursprünglichen, ehrwürdigen Bau, in dem wir uns heute befinden, und der einst als Kloster eine Schar von Mönchen beherbergt hatte, zu einem Heim für unliebsame Früchte sexueller Ausrutscher von Geistlichen und ihren Haushälterinnen umfunktioniert. In den Pfarrhäusern konnte und wollte man diese aus naheliegenden Gründen nicht aufziehen …

      Ein halbes Jahrhundert lang leistete dieses Heim gute Dienste. Die unehelichen Kinder waren aus dem Blickfeld der Gläubigen


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