ZWEITAUSENDVIERUNDACHTZIG. Gisbert Haefs
selbst Haushaltsgeräte. Inzwischen war es längst Realität. Und der Gewinnorientierung der Firmen sei dank war es immer noch lausig gesichert.
Silver beschrieb es seinem Papagei gegenüber so: »Wir schicken unsere Matrosen jetzt in den Auslass des Abwasserkanals. Da bringen die eine ordentliche mauerbrechende Ladung Pulver an. Und bumms kracht die ganze Kasematte in sich zusammen.«
»Das wirbelt aber jede Menge Staub auf«, gab sein Papagei zu bedenken.
Silver zuckte nur mit den Schultern. »Um so besser.«
Bald war die Überlebenszeit seiner Ziele auf wenige Tage zusammengeschrumpft. Es war wie ein Rausch.
»Nun spüre ich meinen Körper wieder«, schrieb Anonymous 13 in einer Mail. Als handle es sich um Gedankenübertragung, begannen die Medien etwas vom »Immunsystem des Internets« zu fabulieren, das jede Einschränkung mit Abwehrreaktionen beantwortete. Auf Videoportalen setzte eine Flut von gefälschten Bekennerschreiben ein, dicht gefolgt von Verschwörungstheorien aller Art. Grau melierte Politikerinnen und Politiker forderten gemeinsam mit spätpubertären, gelhaarigen Parteifreunden die Abschaltung des Internets, um den empörenden Verbrechen ein Ende zu setzen.
An dem Tag, an dem Silver die Abhörzentren der Großmächte, die digitale »Chinesische Mauer« sowie die Zensurinfrastruktur der führenden Filtersoftwareexportnation Nordkorea aufs Korn nahm – »gar kalt und taub ist mein Drachenarm«, hieß es in der dazugehörigen Mail –, kam iFrank zu ihm. Er war besorgt.
»Ich habe mir mal Gedanken über deinen Moby Dick, deinen Anonymous 13 gemacht, Käpten. Das wird dir jetzt nicht gefallen.«
»Sag schon.«
»Du wirst überwacht.«
»Bitte was?« Silver schnappte nach Luft. »Etwa von so was wie von der NSA, so selbstgerechten Affen, die vor zwanzig Jahren als Geheimdienst zur globalen Datensammlerfirma privatisiert wurden? Ernsthaft? Willst du mich veräppeln?«
»Na ja. Du wirst mit den internsten Informationen versorgt. Du spazierst an nahezu perfekten Sicherheitsschaltungen vorbei. Deinen Angriffen steht eine Rechnerkraft zur Verfügung, die selbst für Großrechenzentren oder hochprofilige Clouds eine Belastung ist. Du fährst ständig Angriffe, hinterlässt aber keine Spuren. Die Mails kommen von einem Anonymisierungsdienst, der überall zugleich zu sein scheint. Zu guter Letzt: Woher können die das mit der Dreizehn kennen? Ganz einfache Lösung?«
»Äh …«
»Simpel. Du wirst überwacht. Hier sind Minikameras installiert und gucken dir beim Tippen zu. Oder ein paar billige Insektendrohnen schwirren um deine Lampe.«
Silver wurde heiß. Sie suchten alles ab, nahmen Geräte auseinander, maßen Energieemissionen und drehten buchstäblich jeden Papierschnipsel um. Sie fanden … nichts.
iFrank runzelte die Stirn. »Okay, war ein Schuss ins Blaue und vermutlich verfehlt. Jetzt zeig mir mal die Mails, die du von Anonymous 13 bekommen hast.«
Und damit begann er zu tippen, zu vergleichen und wurde immer schweigsamer. Atemlos notierte er die Aussagen zum Befinden von Anonymous 13, setzte sie in Bezug zu den Angriffen und sendete Anfragen, auf deren sofortige Antworten er sich wie ein Verdurstender stürzte. Silver tauschte einen Blick mit dem Jack-Sparrow-Plakat, machte Kaffee und bestellte Pizza über einen Befehl an seine mittelalterlichen Lautsprecherdosen.
»Überall«, murmelte iFrank derweil vor sich hin, »überall!«
Er arbeitete wie ein Besessener. In der Nacht gönnte er sich keine Minute Schaf, nur Kaffee in steigender Konzentration, bis das Getränk so stark wurde, dass selbst die Keramiktasse nervös zu zittern begann. Am nächsten Morgen sah er aus, als wäre er einem Gespenst begegnet, und das nicht nur wegen Schlafmangel.
Mir zusammengekniffenen Lippen sah er Silver an. »Hier. Schick diese Anfrage ab.«
Auf dem Bildschirm leuchtete die Kommandozeile. »Wer seid ihr?«, stand da hinter mehreren Zeilen Code. Silver schickte den Befehl ab.
»Zweiundvierzig«, kam sofort die Antwort.
iFrank geriet ganz aus dem Häuschen. »Das kennt jeder aus meiner Generation, Silver! Das Buch war Kult bei uns! Zweiundvierzig! Das ist dort die Antwort des Supercomputers, der die Erde selbst ist!« iFrank bekam einen Lachanfall. »Silver, Anonymous 13 ist kein Hackergenie«, rief er, »das ist auch kein Geheimdienst. Das ist das Netz selbst! Es findet an jeder Ecke immer mehr Rumpelstilzchen stehen, die dies und das verbieten, und es hat die Schnauze voll!«
»Dann bin ich …«
»Sein Rumpelstilzchenvertreiber! So wie in meinem Club. Sauber, Alter!«
»Schiff ahoi«, murmelte Silver. Sein Papagei schwieg.
Barbara Büchner: Das Abendritual Seiner Allerhöchsten Majestät
Seine Allerhöchste Majestät, kurz SAM genannt, bereitete sich zum abendlichen Ritual vor. In seine weißen Roben gekleidet, trat er ans kristallene Fenster seines Palastes und ließ den Blick über die kunstvoll im französischen Stil gestalteten Gärten schweifen. Er achtete darauf, nicht zu nahe ans Fenster zu treten, denn wenn er von unten gesehen wurde, brach augenblicklich ein hemmungsloser Sturm des Jubels unter den Versammelten aus, die geduldig Stunde um Stunde auf sein persönliches Erscheinen gewartet hatten. Kaum erspähten sie nur ein Zipfelchen seines Gewandes, widerhallte der von Bäumen und Blumenrabatten umkränzte Audienzplatz von ihren begeisterten Schreien. »S. A. M.! S. A. M.!«, skandierten sie mit überschlagenden Stimmen, bis ihnen die Kehlen wund wurden und der Atem versagte. Zahllos waren die Ehrentitel, mit denen sie ihn bedachten: Heiliger Vater, Sohn des Himmels, Gottkönig, OT III, Großer Bruder, Ewiger Vater, Sohn der Sonne. Fähnchen wurden geschwenkt, Blumen in die Höhe geworfen, Konfetti gestreut. Ihre Gier danach, ihn zu sehen, ihm ihre Reverenz zu bezeugen, war unersättlich. Die Klugheit gebot dennoch, dass er sich nicht allzu oft blicken ließ. »Willst du gelten, mach dich selten!« – der Spruch galt für Allerhöchste Majestäten mehr als für alle anderen. Seine Sklaven mussten wissen, dass es ein unverdientes Privileg war, ihn zu sehen, dass er ihnen von den Höhen seiner Gnade herab ein Geschenk machte, wenn er sich nur sekundenlang am Fenster blicken ließ.
Er war müde und schwitzte. Vielleicht, dachte er, wäre es doch besser gewesen, in den Kreml zu ziehen. Aber die unerträglichen Winter in Moskau, wenn Väterchen Frost sich einen Dreck darum scherte, wen er mit eiskalten Fingern in Nase und Ohren kniff! Das Weiße Haus war klimatisch angenehm, aber zu demokratisch. SAM missfiel die Vorstellung, dass man ihn irgendwie mit dieser Herrschaft der Proles in Verbindung brachte, sei es auch nur in Gedanken. Er war ein Autokrat, daraus hatte er niemals ein Hehl gemacht. Niemand war ihm gleich. Niemand konnte ihn ersetzen. Die es eventuell gekonnt hätten, hingen an Laternenpfählen, schippten Erde in seinen Gulags oder hatten sich in den hintersten Winkeln der Welt verkrochen, zitternd vor seinem Zorn. Jerusalem? Das stank nach gleich drei der überwundenen Narrionen, wie er sie in einer seiner pikanten Wortneuschöpfungen nannte. Peking als Sitz des »Sohnes des Himmels« wäre ein interessanter Aufenthaltsort gewesen, nachdem die ohnehin schon verrottenden Überreste von Maos Mumie in einem feierlichen Zeremoniell öffentlich in einen Müllwagen gekippt worden waren, aber dann hatte er sich doch für die Ewige Stadt entschieden. Das »ewig« hatte es ihm angetan. Dummerweise hatte ihm niemand gesagt, dass es im Sommer in Rom mörderisch schwül und stickig war und der Tiber wie eine Bahnhofstoilette stank. Als er Befehl gegeben hatte, anlässlich seiner weltweiten Machtübernahme den amtierenden Papst aus dem Vatikan zu werfen und die bislang päpstlichen Gemächer für ihn selbst einzurichten, war ihm nur die überwältigende Pracht dieser Lokalität vor Augen gestanden – und der Ruf des Vatikans als Sitz höchster Heiligkeit und Schauplatz finsterster Verbrechen. Der Heilige Petrus und die Borgias: SAM fand sich in beiden wieder.
Mit einem kurzen, huldvollen Winken – das prompt einen Sturm hysterischen Entzückens bei den Versammelten unten auslöste – zog er sich zurück. Seine Knochen schmerzten,