Sophienlust Bestseller 11 – Familienroman. Marietta Brem
es fast so aus, als würde Franziska gar nicht mehr von dem Kind loskommen, an das sie offensichtlich ihr Herz gehängt hatte.
Nein! Manfred Hirzel schüttelte den Kopf, daß seine blonden, dauergewellten Haare nur so flogen. Ein Kind würde er sich niemals aufhalsen. Da verzichtete er lieber auf Franziska, so schwer es ihm auch fiel.
Noch eine ganze Weile stand Manfred vor dem Telefon und betrachtete den Apparat, ohne ihn überhaupt wahrzunehmen. Die Entscheidung fiel ihm nicht leicht, und darum beschloß er, sie auf Franziska abzuwälzen.
Sie sollte wählen zwischen einer Ehe mit ihm und dem Kind, das er niemals aufnehmen würde. Was ging ihn diese Marion an, das Kind eines seiner Arbeiter?
Er hatte schließlich den Unfall nicht verschuldet, der Ulrich Bölz das Leben gekostet hatte. Also war er auch nicht verpflichtet, sich um dessen Nachkommen zu kümmern.
Trotzdem wollte er großzügig sein und Franziska anbieten, das Kind in einem guten Internat unterzubringen.
Natürlich! Das war überhaupt die Lösung. Manfred schlug sich mit der Handfläche an die Stirn. Daß er da nicht eher draufgekommen war.
Von Manfred Hirzels geheimen Gedanken und Plänen ahnte Franziska natürlich nichts. Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, kehrte auch die bleierne Müdigkeit wieder zurück, die sie vorhin so rasch abgeschüttelt hatte.
*
»Hast du ihn eigentlich gekannt?« Denise von Schoenecker trat ans Fenster und beobachtete gedankenverloren die Schneeflocken, die lustig durch die kalte Novemberluft gaukelten, bevor sie langsam zu Boden fielen.
»Wen meinst du?« Ihr Mann Alexander von Schoenecker ließ die Zeitung sinken. Den ganzen Abend schon hatte er gemerkt, daß seine Frau etwas beschäftigte. Sie war so schweigsam gewesen, was sonst gar nicht ihre Art war.
»Ulrich Bölz«, antwortete Denise etwas ungeduldig. »Er hat bei Hirzel und Sohn gearbeitet. Du kennst doch den Seniorchef.«
»Ja, den schon«, gab Alexander gedehnt zu. »Und von diesem Herrn Bölz habe ich auch schon gehört. Er muß ein sehr zuverlässiger Mitarbeiter gewesen sein, der sich allerdings mit dem Junior nicht besonders gut verstanden hat.«
Denise drehte sich um und ging langsam auf ihren Mann zu. »Den Grund dafür kennst du sicher nicht.«
»Nein, natürlich nicht. Du weißt doch, daß ich mich nie in fremde Angelegenheiten mische. Auch wenn Heinrich Hirzel einer meiner besten Freunde ist, ist das noch lange kein Grund, daß ich…«
»Du hast natürlich recht, wie immer«, unterbrach ihn Denise. Das tat sie sonst nie, aber heute war sie so nervös und ungeduldig wie schon lange nicht mehr, ohne den Grund dafür zu kennen.
Überrascht zog Alexander die Augenbrauen hoch. »Jetzt setze dich einmal her zu mir und erzähle«, forderte er seine Frau auf. »Ich sehe doch, daß du irgendein Erlebnis nicht verarbeiten kannst. Hängt das etwa mit der Beerdigung zusammen, auf der du heute nachmittag warst?«
»Ja… und auch nein. Ich muß gestehen, ich weiß es nicht. Ich sehe nur ständig dieses Bild vor mir, wie diese Franziska, die Schwester von Ulrich Bölz, mit ihrer kleinen Nichte Marion dagestanden hat. Einfach furchtbar.«
Denise setzte sich seufzend neben ihren Mann auf das Sofa. »Wenn solche Menschen dann mit dem Schicksal hadern, habe ich volles Verständnis dafür. Wo bleibt da die Gerechtigkeit?«
Alexander legte den Arm um die Schultern seiner Frau, der auch nach den vielen Ehejahren noch seine ganze Liebe gehörte. »Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir nie ganz werden verstehen können. Und deshalb steht uns auch nicht das Recht zu, nach dem Sinn irgendeines Geschehens zu fragen. Du weißt doch selbst, meine Liebe, daß sich meistens alles in Wohlgefallen auflöst, auch wenn es einige Zeit dauert.«
Innig schmiegte sich Denise an Alexander und legte ihre Wange an die seine. »Du hast recht wie immer, Schatz«, gab sie dann zu und fühlte sich wunderbar geborgen in seinen Armen. »Ich bin so froh, daß ich dich habe, Alex. Du verstehst es immer wieder, mir meine Lebensfreude zurückzugeben.«
Alexander küßte seine Frau zärtlich und merkte gar nicht, daß die Zeitung zu Boden fiel.
»Hoffentlich störe ich euch nicht. Ich wollte mich nur zurückmelden.« Dominik von Wellentin-Schoenecker, von allen nur kurz Nick genannt, stand plötzlich im Zimmer. Niemand hatte ihn kommen hören.
Denise richtete sich auf. »Ach, unser Herr Sohn findet es auch wieder einmal für nötig, in sein trautes Heim zurückzukehren.« Eigentlich hatte sie schimpfen wollen, aber als sie in das strahlende Gesicht ihres Sohnes schaute, hatte er ihr bereits allen Wind aus den Segeln genommen.
»Nicht, Mutti, das paßt überhaupt nicht zu dir, daß du mir jetzt eine Standpauke hältst. Ich war doch nur in Sophienlust und habe Heidi getröstet.« Er goß sich eine Tasse Tee ein, der noch gut warm war. »Das tut gut«, murmelte er dann genießerisch.
»Was ist denn mit Heidi? Heute nachmittag war doch noch alles in Ordnung.« Denise schaute ihren Sohn beunruhigt an.
Aber Nick winkte ab und setzte sich in einen der wuchtigen Sessel. Dann streckte er seine langen Beine weit von sich und legte den Kopf zurück. »Nicht nötig, Mutti, daß du dich aufregst. Jetzt schläft sie endlich. Ihr hat nur der Abschied von Karin zu schaffen gemacht. Sie sind ja in den letzten zwei Monaten ganz dicke Freundinnen geworden.«
»Ach ja, Karin. Sie ist auch ein liebes Mädchen.« Denise lächelte ihren Sohn an. »Es ist schon ein großes Glück für sie, daß sie neue Eltern gefunden hat. Ich glaube, bei den Krämers hat sie es wirklich schön. Sie lieben das Kind sehr, und außerdem haben sie keine eigenen Kinder.«
»Schon, aber Heidi hat jetzt wieder überhaupt keine Freundin in ihrem Alter, abgesehen davon, daß Karin versprochen hat, bald schon zu Besuch zu kommen«, berichtete Nick weiter.
Das Kinderheim Sophienlust, das er von seiner Großmutter Sophie vererbt bekommen hatte, lag ihm sehr am Herzen. Er kümmerte sich mit Freude und Feuereifer um alle Belange der Kinder, tröstete sie, wenn es nötig war, und lernte mit den Größeren, wenn sie es wollten und seine Zeit es erlaubte.
»Vielleicht wird sie bald eine neue Freundin bekommen. Ich glaube es sogar ganz sicher«, warf Denise ein. »Marion dürfte etwa in Heidis Alter sein, und sie ist anscheinend auch ein sehr liebes Mädchen.«
»Ich weiß, wen du meinst, Mutti. Du sprichst von Marion Bölz, deren Vater heute beerdigt worden ist. Ich glaube, es ist ganz gut, wenn du dich ein bißchen um die Leute kümmerst. Ich habe nämlich läuten hören, daß sie ziemlich arm sein sollen. Marions Vater hat doch sein ganzes Geld ausgegeben, um seiner Frau zu helfen. Er soll sogar Schulden bei der Bank gemacht haben. Und dann war doch alles umsonst«, fügte der hübsche Junge noch traurig hinzu. Auch ihm ging das Schicksal anderer Menschen nahe, genau wie seiner Mutter.
»Woher weißt du denn das?« fragte Denise überrascht, und auch Alexander horchte auf.
»Peter Maiers Vater arbeitet doch auch bei Hirzel. Und ihr wißt doch, daß Peter mein Freund ist.«
»Ich habe Marions Tante heute zwar meine Hilfe angeboten, aber wie ich diese junge Frau einschätze, wird sie davon keinen Gebrauch machen. Sie wird sich nicht getrauen, hierherzukommen«, überlegte Denise laut und nippte an ihrem Tee.
»Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, dann muß der Berg eben zum Propheten gehen.« Alexander schmunzelte und hauchte seiner Frau einen liebevollen Kuß auf die Wange.
»Du kennst Mutti wirklich sehr gut, Vati.« Nick lachte ebenfalls. »Heidi wird staunen, daß wir so schnell für Ersatz gesorgt haben.«
»Noch ist Marion nicht hier«, beschwichtigte Denise ihre beiden Männer. Aber auch sie war überzeugt davon, daß es für alle Beteiligten die beste Lösung war.
*
»Von mir aus kannst du sofort gehen, Irina. Aber denkst du denn nicht ein bißchen an deinen Sohn?« Aufgeregt ging der Mann in dem exklusiv eingerichteten Wohnzimmer