Das Holly Summer Lesebuch. Holly Summer
ich genervt die Augen.
»Ach, so kenne ich dich ja gar nicht«, wundert sich Jessy grinsend.
»Nein, wirklich, ich wollte ausweichen und habe stattdessen den Jogger über den Haufen gefahren.«
»Oh Gott, hoffentlich ist ihm nichts passiert! Und dem Kind?«
Ich schüttle verneinend den Kopf.
»Nein, alles okay. Ich war die Einzige, die etwas abbekommen hat. Aber am schlimmsten hat es Elijahs Rennrad erwischt. Ich weiß doch, wie sehr er an dem Teil hängt. Von diesen Rennrädern gibt es nicht viele.«
»Männer und ihre Spielzeuge«, sagt sie und grinst mich im Spiegel an. »Aber erzähl mal, sah er wirklich so scharf aus?«
Ich werfe das benutzte Papiertuch in den Abfalleimer und schaue auf.
»Wer?«
»Na, der Typ, den du umgefahren hast.«
Ich zucke mit den Achseln, um Gleichgültigkeit zu signalisieren. Leider ist er ebenso schnell wieder aus meinem Leben verschwunden, wie er mit voller Power hineingetreten ist. Zu schade, dass wir uns nicht unter anderen Umständen kennengelernt haben. Er war wirklich eine Sahneschnitte ...
»Lassen wir den Alten nicht unnötig warten«, entscheide ich, anstatt Jessys Frage zu beantworten, und stopfe die schmutzige Hose und die Bluse in die Tasche.
Fullerton sitzt mit ernster Miene wie eine Spinne im Netz in seinem Chefsessel hinter seinem Schreibtisch, während Jessy, seine Sekretärin und ich uns auf den unbequemen Stühlen davor niederlassen.
»Wir haben einige neue Objekte zum Verkauf bekommen. Die müssen sofort beworben werden«, bestimmt er. »Jessy, übernehmen Sie das?«
»Natürlich«, sagt sie reserviert.
Nach 20 Minuten weiterer Belanglosigkeiten zum Tagesgeschäft, fordert er uns auf, wieder an die Arbeit zu gehen.
»Sie nicht, Miss Anderson. Mit Ihnen habe ich noch etwas zu besprechen.«
Ich werfe Jessy einen genervten Blick zu, da ich genau weiß, um was es geht, und setze mich wieder. Als Jessy und die Sekretärin die Tür hinter sich geschlossen haben, wendet sich Mister Fullerton an mich und beugt sich über seinen Schreibtisch nach vorne, während er seinen silbernen Kugelschreiber durch die wulstigen Finger gleiten lässt. Diese Besprechung war so unnötig wie ein Kropf. Der kollektive Arschtritt, den er uns ab und zu verpasst, hat dazu beigetragen, mir den Tag so richtig zu vermiesen, und jetzt wird er das Fass zum Überlaufen bringen.
»Der nächste Punkt betrifft Sie, Miss Anderson. Ich brauche Sie in der nächsten Woche für einen Abend hier.« Ich schaue verwundert auf. »Für das Marketingkonzept, das ich ausarbeiten werde«, lässt er mich wissen. Als wäre ich diejenige, die Hintergedanken hat.
»Nächste Woche habe ich einige private Termine am Abend, Mister Fullerton«, will ich seinen Versuch, mich nach Büroschluss hierzubehalten, abwehren.
Er tippt auf seiner Computertastatur und ruft eine Excelliste auf.
»Ich glaube nicht, dass Sie in der Position sind, Forderungen zu stellen«, wirft er beiläufig ein, ohne sich vom Bildschirm abzuwenden. Ich spüre, wie Wut in mir aufsteigt, und balle unbewusst die Hände zu Fäusten.
Am liebsten hätte ich laut aufgelacht. Was heißt hier Forderungen stellen? Er redet von Überstunden, die weit über mein Tätigkeitsfeld hinausgehen. Ich bin Immobilienmaklerin, ich zeige Kunden Häuser und hochwertige Wohnungen, fertige Verträge und Expertisen aus, aber ich bin nicht sein Mädchen für alles. Das sollte ich ihm endlich klar machen.
»Ich kann mich nicht erinnern, Forderungen gestellt zu haben«, antworte ich leicht angefressen. Aber er geht nicht weiter darauf ein. Im Gegenteil, jetzt kommt die Ansprache, die ihm schon die ganze Zeit unter den Nägeln brennt.
»Soweit ich sehen kann, haben Sie in der letzten Zeit nicht einen einzigen Abschluss getätigt. Was ist mit dem Grundstück in der Elm Street? Wieso sind die Interessenten abgesprungen? Sie hatten den Vertrag doch schon so gut wie unterzeichnet.«
»Sie wissen genauso gut wie ich, dass unser stärkster Konkurrent J. Edwards dazwischen gefunkt hat. Wie er es so oft tut«, verteidige ich mich. Fullerton winkt genervt ab.
»Sie machen es sich reichlich einfach, Miss Anderson. Setzen Sie Ihren Charme ein. Das können Sie doch.«
Ich ziehe entsetzt die Luft ein. Diese Anspielung hat gesessen und war obendrein vollkommen aus der Luft gegriffen. Ich sollte mir diese Unverschämtheiten nicht weiter gefallen lassen, also stehe ich jetzt entschlossen auf. Mein Stuhl rutscht dabei über den polierten Parkettboden nach hinten und kippt, aber ich kann ihn zum Glück noch davor bewahren, auf dem Boden aufzuschlagen.
»Ich habe nicht vor, mir weiter Ihre Frechheiten anzuhören«, kontere ich erhitzt.
Fullertons arrogantes Grinsen verschwindet augenblicklich aus seinem Gesicht. Dann bedeutet er mir, mich wieder zu setzen, und räuspert sich kurz.
»Ich kann mich nicht erinnern, Sie beleidigt zu haben«, zischt er durch die Zähne.
»Das sehe ich anders.«
»Dann tut es mir leid, wenn ich den Eindruck erweckt haben sollte. Bitte, setzen Sie sich.«
Ich nehme wieder Platz und verschränke die Arme vor der Brust. »Wenn Sie keine weiteren Themen haben, würde ich jetzt gerne anfangen zu arbeiten. Ich erwarte einen Anruf von einem Kunden«, lasse ich ihn wissen.
»Wir sind gleich fertig. Um auf die aktuelle Situation zurückzukommen: Wie stellen Sie sich eigentlich vor, wie ich weiter Ihr Gehalt finanzieren soll?«
Natürlich, er versucht wieder die alte Nummer. Er will mich einschüchtern. Aber dieses Mal werde ich ihm entschlossen entgegentreten. Das hätte ich schon längst tun sollen.
»Mister Fullerton, Sie wissen, dass es nicht an mir liegt. Ich habe jeden Tag mehrere Termine vereinbart und den Kunden die Häuser und Wohnungen gezeigt. Wieso wir den Abschluss am Ende nicht machen konnten, weiß ich nicht. Vielleicht arbeitet dieser Edwards mit Mitteln, die mir zuwider sind«, erkläre ich. »Ich konnte für nächste Woche einige Termine vereinbaren, die sehr vielversprechend klingen. Ich bin ganz sicher, dass ...«
Er unterbricht mich, indem er die Hand hebt.
»Also schön, verkaufen Sie das Watson-Anwesen«, bestimmt er.
»Was? Mister Fullerton, diese Immobilie wird nicht nur von uns offeriert. Auch J. Edwards hat sie im Angebot. Das Objekt ist das Hochpreisigste, das wir haben. Sie glauben doch nicht, dass Edwards sich dieses Geschäft von uns vor der Nase wegschnappen lässt!«
Mein Chef grinst mich falsch an, indem er die Lippen nach oben zieht. Er erinnert mich an eine Hyäne.
»Eben, zeigen Sie mal, was Sie können, und luchsen Sie ihm den Auftrag ab. Hängen Sie sich ans Telefon und bieten Sie diese Immobilie unseren Interessenten an.«
Ich spüre, wie mir die Felle wegschwimmen. Es ist so schon schwierig genug, gegen J. Edwards anzukommen, aber dieses Objekt ist eine allzu große Herausforderung. Wie Edwards die Abschlüsse für sich gewinnt, weiß ich nicht. Vielleicht verzichtet er auf Provisionen, macht seine Abschlüsse beim Golfspielen oder wendet irgendwelche skrupellosen Methoden an. Doch das ist nicht meine Art.
»Wie sieht es mit dem Haus auf der Washington Avenue aus?«, versuche ich, einen Kompromiss auszuhandeln. »Dafür hätte ich einen Interessenten. Ich bin sicher, dass er unterschreibt.«
Der Alte schüttelt den Kopf, bevor er antwortet. »Das ist Ihre letzte Chance. Wenn Sie diesen Auftrag auch nicht bekommen, dann können Sie sich nach einer neuen Stellung umschauen. Das ist alles, Miss Anderson.«
Er wendet sich wieder seinen Zahlen zu und ich bin entlassen. Dieser verdammte Mistkerl. Ich weiß genau, dass es nicht an meiner Arbeit liegt, sondern daran, dass ich ihn abgewiesen habe. Deshalb will er mich loswerden. Nur aus diesem Grund verlangt er das Unmögliche von mir. Sein verdammtes Ego ist angekratzt.