Sophienlust 315 – Familienroman. Anne Alexander

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Sophienlust – 315 –

      »Ausgeschlafen, mein Liebes?« Schwester Regine beugte sich lächelnd über das Kinderbett, das seit drei Monaten in ihrem Zimmer stand. Zwei Ärmchen streckten sich ihr erwartungsvoll entgegen. »Heute ist ein großer Tag für dich, Melissa«, fuhr sie fort und hob das kleine Mädchen aus dem Bett. Liebevoll drückte sie es an sich.

      In den drei Monaten, die Melissa Braun jetzt in Sophienlust lebte, hatte die Kinderschwester sich so an die Kleine gewöhnt, daß sie sich nur schwer von ihr trennen konnte.

      Melissa erinnerte sie an ihr eigenes Töchterchen Elke. Elke war genauso blond gewesen wie Melissa, aber sie war nur drei Jahre alt geworden. Der Unfall, der ihr und ihrem Mann das Leben gekostet hatte, lag nun schon einige Jahre zurück, aber den Schmerz über diesen Verlust hatte die junge Frau noch immer nicht ganz überwunden.

      »Meli hat dich lieb!« Die Zweijährige schlang fest ihre Ärmchen um den Hals der Kinderschwester. »Sehr lieb!«

      »Auch ich habe dich sehr lieb, mein Kleines!« Impulsiv küßte Schwester Regine das kleine Mädchen auf die Stirn. »Aber jetzt werden wir uns ganz schnell waschen, und dann geht es hinunter zum Frühstück.«

      »Meli Schule gehn!«

      »Nein, für die Schule ist Meli noch zu klein«, sagte Schwester Regine. »Aber nach dem Frühstück gehen wir mit Heidi, Werner, Traudi und Jochen auf den Spielplatz.« Sie stellte die Kleine auf den weichen Teppichboden. »Oje, du bist ja noch barfuß, Melissa!« Rasch bückte sie sich nach den winzigen Hausschuhen des Kindes und streifte sie ihm über.

      Melissa rannte ihr vorweg zur Tür. Sie versuchte die Klinke zu erreichen, aber dazu war sie noch zu klein. »Tür auf!« forderte sie sehr energisch. »Tür auf!« Sie schlug mit den Fäusten an das Holz.

      »Immer langsam, Meli«, mahnte die Kinderschwester. »Das Wasser läuft dir nicht davon!« Sie öffnete die Tür.

      Melissa schoß an ihr vorbei in den Gang. Wenn es darauf ankam, konnte sie so flink wie ein Wiesel sein.

      »Brumm, brumm!« machte die Kleine. »Meli ist Auto!« Damit bog sie in den Waschraum ein.

      »Na, wer kommt denn da?« Angelina Dommin, ein blondes Mädchen von dreizehn Jahren, von allen Pünktchen genannt, ging in die Hocke und breitete die Arme aus. »Ist dieses Auto etwa unsere Meli?«

      »Auto ist Meli«, bestätigte Melissa und ließ sich in Pünktchens Arme fallen.

      »Wir werden dich sehr vermissen, Meli«, seufzte Pünktchen und hob die Kleine hoch, um sie dann an ihre fünfzehnjährige Freundin Irmela Groote weiterzugeben.

      »Es ist richtig schön, wenn so ein kleines Kind in Sophienlust ist«, meinte Irmela und strich Melissa eine blonde Strähne aus der Stirn.

      »Ich möchte sie auch einmal halten!« rief die zwölfjährige Angelika Langenbach und streckte ihre Arme nach Melissa aus.

      »Hier hast du sie!« Irmela wirbelte das vor Vergnügen quietschende Mäd­chen herum und reichte es dann an Angelika weiter. Von Angelika wanderte es zu deren zehnjähriger Schwester Vicky.

      »Und jetzt ich!« schrie die fünfjährige Heidi Holsten. Sie wischte sich die Hände am Handtuch ab. »Jetzt bin ich dran!«

      »Du bist noch zu klein, um Meli zu tragen«, sagte Viktoria ablehnend und drehte sich demonstrativ mit Melissa zur anderen Seite. »Nicht wahr, Meli, du willst bei mir bleiben?« wandte sie sich an die Zweijährige.

      »Meli Di-Di!« Melissa zappelte mit den Beinen. »Meli will Di-Di!«

      »Hörst du, sie will zu mir!« Heidi streckte erneut ihre Arme aus. »Komm zu mir, Meli-Schatz!« Als Vicky keine Anstalten machte, ihr das kleine Mädchen zu geben, rannte sie zu Schwester Regine, die eben den Waschraum betrat. »Schwester Regine, sag Vicky, sie soll mir Meli geben!« rief sie. »Ich bin groß genug, um Meli zu halten. Da Meli heute weggeht, möchte ich sie auch noch einmal liebhaben.«

      »Du hast noch bis heute mittag Zeit, Meli liebzuhaben, Heidi«, beruhigte Schwester Regine die Fünfjährige, »aber wenn Pünktchen, Irmela, Angelika und Vicky aus der Schule kommen, dann ist Meli schon fort.«

      Heidi nagte an ihrer Unterlippe, wie immer, wenn sie nachdachte. »Warum bleiben Melis neue Eltern denn nicht noch zum Mittagessen in Sophienlust?« fragte sie.

      »Weil sie noch heute nach Köln zurückfahren wollen.«

      »Dauert es lange, bis man in Köln ist, Schwester Regine?«

      »Ja, sehr viele Stunden.«

      »Dann kann Meli uns ja gar nicht mehr besuchen«, stieß Heidi entsetzt hervor. In ihren blauen Augen glitzerten Tränen. »Dann ist sie immer weg!«

      Heidi war im allgemeinen auf kleinere Kinder eifersüchtig, da sie das Nesthäkchen von Sophienlust sein wollte, aber Melissa hatte sie in ihr Herz geschlossen.

      »Herrn und Frau Walter gefällt es in Sophienlust. Sie werden bestimmt ab und zu kommen, um uns zu besuchen«, sagte Schwester Regine. »Du weiß doch, die meisten Eltern, die Kinder von uns adoptieren, besuchen uns immer wieder.«

      »Dann ist es gut!« Heidi wischte sich über die Augen. Danach drehte sie sich um. »Schau mal, Schwester Regine!« schrie sie. »Traudi ißt Seife!«

      Traudi Mahler, ein sechsjähriges Mädchen, verzog eben angewidert das Gesicht und spuckte ein Stück Seife in das Waschbecken. Rasch griff sie zum Zahnputzbecher, nahm den Mund voll Wasser und spuckte es ebenfalls wieder aus. »Iii!« Sie schüttelte sich.

      »Einfälle hast du, Trudi!« Schwester Regine ermahnte das kleinen Mäd­chen, noch einmal den Mund zu spülen. »Um alles in der Welt, warum hast du ein Stück von der Seife abgebissen?«

      Traudi spuckte das Wasser aus. »Ich wollte wissen, wie sie schmeckt«, bekannte sie freimütig. »Seife schmeckt schlecht!« Sie drehte sich zu den anderen Mädchen um. »Warum lacht ihr denn?« fragte sie.

      »Weil du bestimmt das erste Mädchen bist, das Seife ißt«, antwortete Vicky lachend. Sie stellte Melissa auf den Boden. Mit der Zeit war ihr die Kleine doch zu schwer geworden.

      »Das erste Mädchen, das Seife ißt, ist Traudi bestimmt nicht«, sagte Schwester Regine. Sie verkniff sich nur mühsam das Lachen. Traudi war eines der neugierigsten Kinder, das sie je in Sophienlust gehabt hatten. Aber sie war nicht nur neugierig, sondern auch wißbegierig. Alles mußte sie ausprobieren.

      Heidi bemühte sich inzwischen, Melissa hochzuheben, aber die Kleine war doch zu schwer für sie. »Ich werde dich waschen, Meli«, entschied sie und nahm Melissa an die Hand.

      »Wie ich sehe, bin ich hier überflüssig«, meinte Schwester Regine. »Dann werde ich erst einmal Melissas Bett machen. Bringt sie mir bitte, wenn ihr fertig seid.«

      »Darf ich Meli anziehen?« fragte Pünktchen, bevor eines der anderen Mädchen ihr zuvorkommen konnte.

      »Wenn du willst, gern«, erwiderte Schwester Regine. Sie schmunzelte, denn Heidi belehrte Melissa eben darüber, wie wichtig es sei, sich auch jeden Tag den Hals zu waschen. »Vergiß deinen eigenen Hals nicht, Heidi!« rief sie lachend und verließ den Wasch­raum.

      *

      »Harald, bitte, kneif mich!«

      »Was soll ich?« Harald Walter nahm den Blick von der Fahrbahn und sah seine Frau an, die neben ihm auf dem Beifahrersitz saß.

      »Mich kneifen«, wiederholte Christine Walter. »Ich will wissen, ob ich nicht vielleicht doch träume. Vielleicht liege ich zu Hause in meinem Bett, und es gibt gar kein kleines Mädchen, das auf uns wartet.« Ihre braunen Augen strahlten vor Freude und Glück. »Ich kann einfach nicht glauben, daß wir jetzt endlich ein Kind haben werden, ein kleines Mädchen!«

      »Ich war zwar zunächst dagegen, ein fremdes Kind in unsere Familie aufzunehmen, aber jetzt bin ich froh, daß du mich dazu überredet hast, Liebling«, erklärte Harald Walter. »Und Melissa ist erst zwei! An ihre eigene Mutter wird sie sich in einigen Wochen kaum noch erinnern.«

      »Sie hat mich ja schon bei unserem letzten Besuch Mami genannt«, meinte Christine glücklich. »Ob ihr das Zimmer gefallen wird, das wir für sie


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