SHAMROCK ALLEY - In den Gassen von New York. Ronald Malfi

SHAMROCK ALLEY - In den Gassen von New York - Ronald  Malfi


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Er sah ihn, wie fast alle Jungen ihre Väter sehen – groß und nachdenklich, dunkel und rätselhaft, im Besitz aller Dinge, die stark und mächtig und übermenschlich sind. Ein kleines Haus in einem armseligen Stadtviertel von Brooklyn mit abgewetzten Teppichen und rostigen Hämmern und Schraubenziehern in jeder Küchenschublade. Ein Baseballschläger und schlammige Turnschuhe auf der Terrasse. Ein Zuhause ohne Mutter, in dem die Abwesenheit dieser essenziellen weiblichen Energie wie etwas Physisches an jeder Wand, jedem Bett, jedem gewaschenen und ungewaschenen Kleidungsstück klebte; in dem der einzige Beweis, dass die Mutter jemals existiert hatte, ein Schwarz-Weiß-Foto am Ende der Treppe war, nur wenige Schritte von seinem eigenen Zimmer entfernt. Auf dem Foto lag eine Frau mit blasser Haut auf einem grasbewachsenen Hügel im Central Park, mit einem koketten Lächeln, das an ihren Mundwinkeln zog. Er sah, wie sein Vater durch die Hintertür in die Küche kam, Gesicht und Hemd mit Ruß bedeckt, die Stiefel schlammig, und als er sich einen frischen Kaffee machte, sagte er: »Das war ein Feuer heute Nacht, Johnny. Die Flammen sind bis hoch in den Himmel geschlagen.« Und John stellte sich die Flammen vor wie Wolkenkratzer, die sich in einem grellen Schauspiel in die Nacht brannten.

      Der alte Mann bewegte sich.

      »Dad«, sagte John.

      Es dauerte ein paar Minuten, bis das Bewusstsein des alten Mannes die Oberhand gewann.

      Als sich seine Augen öffneten, war für den Bruchteil einer Sekunde eine Verwirrtheit in seinem Blick, die fast kindlich wirkte. Seine rauen Hände wanderten über den Stoff der Bettdecke. Er sah aus wie jemand, der gerade wieder zum Leben erweckt wurde.

      »Dad«, wiederholte er.

      »Johnny.« Das Wort kam schleifend und unbequem aus seinem Mund und war langgezogen bis zur Unverständlichkeit. Der alte Mann fuhr sich mit der Zunge über seine rissigen Lippen und gab sich Mühe, klarer zu sprechen. »Du bist hier.«

      »Geht es dir gut?« Er blieb im Türrahmen stehen. Mit feuchter Hand schob er sich die Haare aus dem Gesicht.

      »Ist es spät?«

      »Spät? Nein, Dad. Brauchst du etwas? Ich kann eine Krankenschwester holen.«

      »Keine Krankenschwester.«

      »Wasser?«

      »Nichts.« Er vermochte kaum seine Augen offenzuhalten. Eine Nebenwirkung des Morphiums. »Katie, sie ist …«

      »Sie ist hier gewesen«, sagte John schnell.

      »Sie ist … okay?«, beendete der alte Mann den Satz.

      »Äh, na klar. Ja, Dad, ihr geht es wirklich gut. Alles in Ordnung.«

      »Aus dem Baby wird einmal ein Boxer.«

      »Ist das so?«

      »Habe zwei Nächte hintereinander davon geträumt. Das bedeutet etwas, nicht wahr? Groß, ein starker Schwergewichtler. Wart's nur ab. Jetzt komm schon in das gottverdammte Zimmer, John.«

      Er betrat den Raum und ging schnell zum Tisch neben dem Bett seines Vaters. Um sich mit irgendetwas zu beschäftigen, nahm John die Taschenuhr und begann sie aufzuziehen. Er war so nah, dass er den Atem des alten Mannes rasseln hörte. Es war ein Geräusch der Verdammnis, ergänzt um den Geruch des nahenden Todes.

      »Du passt auf dich auf?«

      »Ja, Dad.«

      »Im Dienst …«

      »Ja.«

      »Hm. Du siehst gar nicht gut aus. Zu müde. Ich sehe dir an, dass du nicht genug schläfst. Schlaf ist wichtig. Du arbeitest zu lange und zu den falschen Zeiten. Gesund ist das nicht. Du solltest mehr schlafen.«

      »Es gibt viel zu tun«, versuchte John eine Erklärung. Und bereute sie sogleich.

      »Was du jetzt tun solltest, ist Zeit zu Hause zu verbringen. Das ist wichtig.«

      John legte die Uhr wieder auf den Nachttisch. »Hat sich Katie bei dir über mich beschwert?«, fragte er nur halb im Scherz.

      »Sie schmuggelt mir dein Abendessen herein, wenn du nicht zum Essen nach Hause gekommen bist. Kannst ruhig weiter so machen. Sie ist eine gute Köchin.« Der alte Mann lächelte, was die Krähenfüße an seinen Augen mit ihrer dünnen, faltigen und zerklüfteten Haut besonders sichtbar machte.

      John starrte auf das Kruzifix auf dem Nachttisch. Er konnte spüren, wie die Augen des Vaters auf ihm lagen. Das Morphium hatte nicht alle Sinne des alten Mannes betäubt. Wieder fühlte er sich wie ein Kind unter dem vor allen Wettern und Stürmen schützenden Schirm, der der Schatten seines Vaters war.

      »Das Baby wird bald da sein«, sagte der Vater. In seiner Stimme lag jetzt eine gewisse Schwere. »Du musst darüber nachdenken, was zu tun ist.« Nach einem Zögern fügte er hinzu: »Mit deinem Job.«

      »Dad«, sagte er und rieb sich den Nacken, während er seinen Kopf nach hinten streckte. »Wir haben so oft darüber geredet …«

      »Deine Arbeit … so kannst du kein Kind großziehen.«

      »Du hast es auch so gemacht.«

      »Du kannst es besser machen als ich.«

      »Mein Job hat nichts damit zu tun, wer ich zu Hause bin«, sagte er.

      Stille befiel das Zimmer. Eine gefühlte Ewigkeit stand John da, ohne ein Wort zu sagen, und fühlte sich wieder wie der unfähige kleine Junge, als der er sich im Angesicht seines Vaters immer gefühlt hatte.

      »Du musst nicht herkommen«, sagte sein Vater nach einer Weile mit einer Stimme, die so sehr sein altes Selbst war, dass sie John frösteln ließ. »Wenn du zu beschäftigt bist, verstehe ich das. Die Ärzte und Schwestern hier sind gut. Sie behalten mich im Auge. Du musst nicht kommen, wenn du zu beschäftigt bist.«

      »Erzähl keinen Quatsch.«

      »Du weißt, was ich meine. Du musst dich um deine Angelegenheiten kümmern, statt dir um einen alten Dummkopf in einem verdammten Krankenhaus Sorgen zu machen.«

      »Hör auf.«

      »Ich will nur, dass du weißt, dass ich Verständnis dafür habe.«

      »Sei nicht so. Es gibt nichts, wofür du Verständnis haben musst«, sagte er. »Ich wollte nach dir sehen, schauen, wie du dich fühlst.«

      »Wie ich mich fühle …« Der alte Mann kicherte und keuchte, während er mit einer Skeletthand über seinem Kopf wedelte, als wollte er sagen: Siehst du diese Drähte, diese Maschinen? So, mein einziger Sohn, fühle ich mich.

      John seufzte, steckte die Hände in die Taschen und entfernte sich einen Schritt vom Bett. »Kann ich irgendetwas für dich tun, bevor ich gehe?«

      Sein Vater blickte ihn mit nüchternen Augen an. Einst waren diese Augen dunkelbraun gewesen, fast schwarz. Jetzt waren sie von einem stumpfen Grau, wie Asche, und sie wirkten, als stünden sie zu nahe beieinander in seinem Gesicht.

      »Du hast die Uhr aufgezogen?«, fragte der alte Mann.

      »Sie ist aufgezogen.«

      »Dann brauche ich nichts«, sagte er.

      Später, auf dem Flur, ertappte sich John dabei, wie er durch die Lamellen in den Jalousien aus dem Fenster starrte. Der Tag war noch kühler geworden und im Westen verschwand die Sonne gerade hinter einer Reihe von Gebäuden.

      Er blieb lange Zeit stehen, ohne sich zu bewegen.

      KAPITEL 5

      Detective Sergeant Dennis Glumly vom New York Police Department wäre auf dem Weg zum Pier 76 beinahe zweimal getötet worden. Zuerst hatte sein Auto in der 34. Straße einen Platten gehabt, und als er ausgestiegen war, um den Schaden zu untersuchen, hatte ihn ein Taxi fast in zwei Hälften geteilt. Im letzten Augenblick war es ausgewichen und hatte sein Leben verschont. Der Luftstoß des Taxis hatte seine Jacke aufgebläht, sodass er das Gleichgewicht verloren hatte. Rückwärts war er über die


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