SHAMROCK ALLEY - In den Gassen von New York. Ronald Malfi
andere beschädigt und mit Eselsohren, manche fettverschmiert oder an den Ecken ausgefranst. So viele Geldscheine, so viele Menschen, die sie in der Hand hatten. Es mussten hunderte Fingerabdrücke sein. Papierfetzen. Das war alles, was hier zu sehen war. Alles nur Papier. Papier, das den Lauf der Welt bestimmte.
Was war die Lösung dieser Gleichung? Er vermochte sie nicht zu erkennen.
Als hätte ihn eine unsichtbare Macht erschreckt, sah Bill Kersh plötzlich auf seine Uhr, nahm seinen Mantel und schlurfte aus dem Büro.
***
Sloopy Black verkörperte die Paradise Lounge wie kein Zweiter. Wie der Klub selbst war Sloopy schmal gebaut und unscheinbar, der Teint seiner Haut hatte die Anmutung von durch Zigarettenrauch verfärbter Tapeten. Seine Augen standen so nahe beieinander, dass sie beinahe eine Augenhöhle teilten, und seine Zähne – oder das, was von ihnen übrig war – waren in so viel Gold gekleidet, dass sein Lächeln die Neonlichter aus der Paradise Lounge aufblitzen ließ wie Sterne in einer entfernten Galaxie. Wie ein Nebel unsichtbarer Insekten umgab ihn ein Geruch aus drei Teilen Alkohol und einem Teil, der beängstigend an Fäulnis erinnerte. Wenn er redete, huschte dauernd Sloopys Zunge mit so fieberhafter Schnelligkeit zwischen seine dicken Lippen, dass es Kersh nicht überrascht hätte, wenn dem Mann die Zunge bei Gelegenheit einfach aus dem Mund fallen würde.
Kersh kam zu spät zu seinem Treffen mit Sloopy. Als er die Paradise Lounge betrat und Sloopy nicht zu sehen war, vermutete er zunächst, dass die schmierige Kreatur sich entweder schon davongestohlen hatte oder gar nicht erst aufgetaucht war. Dann erkannte er Sloopys absurde Erscheinung am anderen Ende des Klubs und ging zu ihm. Natürlich hatte Sloopy das Treffen nicht platzen lassen. Genaugenommen hatte noch niemand von Bill Kershs Informanten jemals ein Treffen platzen lassen. Durch die Treffen fühlten sie sich wichtig. Außerdem bezahlte Kersh die Drinks.
»Hallo, Sloopy. Tut mir leid, bin spät dran.«
»Schon gut, Mr. Bill. Heute ist es sowieso viel zu kalt, um draußen zu sein.« Die unglaubliche umherflitzende Zunge verschwendete keine Zeit und hatte sofort ihren ersten Auftritt an diesem Abend.
»Willst du was trinken?«
»Ein Bier wäre schön.« Sloopy blickte über Kershs Schulter zur Hauptbühne der Lounge. Ein halbnacktes Mädchen drehte sich zwischen sich zwei Messingstangen. Der Klub war klein und bedrückend heiß, Schweißperlen bedeckten ihren Körper und reflektierten die Bühnenlichter.
Kersh bestellte zwei Bier und sagte nichts, bis sie serviert wurden und Sloopy zu trinken begann.
»Erinnerst du dich an das Falschgeld, von dem ich dir letzte Woche erzählt habe?«
»Na klar.«
»Hast du seitdem irgendwas gehört, irgendwas gesehen?«
Sloopy tat so, als konzentriere er sich, wobei sich die Konturen seines Gesichts verzerrten, bis sie der verdrehten Spitze eines zugebundenen Müllsacks glichen.
»Nein, nein, überhaupt nicht.«
»Die Jungs, mit denen du unterwegs bist, Sloopy – denkst du, sie wissen vielleicht etwas?«
»Nein, Sir. Ich habe für Sie rumgefragt. Keiner von denen macht was mit Falschgeld. Wir versuchen alle, sauber zu bleiben, das wissen Sie doch?«
»Wie ist dein Bier?«
»Ein bisschen warm. Sonst ist es gut. Ich trinke es auf jeden Fall.«
Sloopy Black schlich für gewöhnlich mit einer Horde ähnlich Degenerierter durch die Stadt, aß, wo er Essen fand, und stahl, wo er stehlen konnte, um über die Runden zu kommen. Die schlimmsten Verbrechen, die Sloopy Black und seine Jungs begingen, waren diejenigen an sich selbst. Am Morgen nach einer guten Nacht war die graue Haut von Sloopys Unterarmen mit blauen, bis ins Purpur leuchtenden Flecken überzogen, die mit Nadelstichen übersät waren. An diesen Tagen fiel Kersh immer auf, dass die Resonanz in Sloopys Augen verblasste … wie ein Feuer, dem langsam der Sauerstoff ausging. Trotz allem waren Sloopy und seinesgleichen noch immer die besten Augen und Ohren der Stadt. Sie krochen auf ihren Bäuchen die Straßen voller Abfall entlang und beschnüffelten den Boden, die Luft, die Menschen. Sie wussten von Morden, bevor die Leichen überhaupt entdeckt waren; sie lebten inmitten des Mülls der Menschheit, was sie zu wahren Experten darin machte, ihresgleichen zu erkennen; und sie fanden große Bestätigung darin, solche Informationen an alle weiterzugeben, die sich dafür interessierten und dafür zahlten. Sloopy war wie jeder andere Informant – es war wichtig, ihm zuzuhören, egal was er zu sagen hatte, ob Lüge oder nicht. Kershs Aufgabe bestand darin, den Mist zu filtern und die sinnvollen Informationen zusammenzustellen, egal wie viel Bullshit dabei war.
Kersh pochte mit einem Finger auf die Tischplatte, um Sloopys Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »Die Karte mit der Telefonnummer, die ich dir gegeben habe, die hast du noch?«
»Aber sicher.« Sloopys Augen blieben auf Kersh gerichtet. »Mr. Bill? Ist alles okay?«
Kersh beobachtete, wie die junge Stripperin zum Rand der Bühne tanzte, sich arschvergrößernd hinhockte und dabei ihre Mähne zurückwarf. Dem Gentleman mittleren Alters, der am Fuße der Bühne saß, schenkte sie ein libidinöses Lächeln. Sie schien in Zeitlupe aufzustehen, und gerade als der Horizont ihres String-Tangas das Messinggeländer erreichte, streckte der mittelalte Mann die Hand aus, eine zusammengefaltete Dollarnote längs zwischen Zeige- und Mittelfinger, und schob den Geldschein zusammen mit seinen dicken Fingern unter den elastischen Bund ihrer Unterwäsche.
»Mr. Bill …«
Kersh stand abrupt auf. Ohne Sloopy eines Blickes zu würdigen, warf er etwas Geld auf den Tisch und entließ seinen Informanten mit einer Handbewegung.
»Mr. Bill …«
»Wir sprechen uns später«, sagte Kersh. »Ich muss los.«
Noch während er sprach, ging er zur Tür.
KAPITEL 7
»Was machst du?« Katie stellte sich hinter John und massierte ihm die Schultern. Die Deckenlampe warf Katies Schatten auf den Küchentisch.
»Ich mache noch etwas Papierkram«, antwortete er. »Ist es schon spät?« Er saß gebeugt über dem Küchentisch wie ein Mönch beim Gebet. Vor einer Stunde hatte sein Rücken zu schmerzen begonnen, aber inzwischen war der Schmerz so dumpf geworden – oder er hatte sich so daran gewöhnt – dass er kaum noch etwas spürte.
»Ziemlich spät. Weißt du, was ich denke?«
»Hm?«, gab er unverbindlich zurück.
»Ich denke, wir sollten einige dieser schicken italienischen Armaturen für das Bad organisieren. Die echten, glänzenden.«
»Was genau meinst du?«
»Ich vergesse immer den Namen der Marke, die mir so gefällt …«
»Ich mag es so, wie es ist.«
»Tust du nicht«, sagte sie und presste ihren Mund leicht auf sein Ohr. »Du weißt nicht einmal, was jetzt im Bad eingebaut ist. Na, wie sieht unser Bad aus?«
Er zuckte mit den Schultern und grinste. Vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet lagen die Verbindungsdaten von Francis Deveneaus Mobiltelefon aus den letzten drei Monaten. Unzählige Male hatte er die Nummern studiert, bestimmte Zahlenfolgen eingekreist und wieder durchgestrichen, aber es war ihm nicht gelungen, einen Faden aufzugreifen, eine neue Spur zu finden.
»Sie sind hässlich und verkalkt«, sagte Katie.
»Was meinst du?« Er hörte sie kaum.
»Die Armaturen im Bad.«
»Sie sind nicht verkalkt.« Waren sie es? Er hatte keine Ahnung.
»Und ein Fenster in der Decke wäre schön«, fuhr Katie in sein Ohr flüsternd fort. »Ein großes, gleich über der Toilette.«
»Wir sind im zweiten Stock. Du würdest das Bad in der Wohnung