Meine Trauer traut sich was. Andrea Riedinger

Meine Trauer traut sich was - Andrea Riedinger


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getrennt lebenden Ehepartnern schwer, denn schon der Griff zum Hörer bedeutet, eine Trennung offiziell voranzutreiben. Und auch der Weg in ein Krankenhaus ist nicht einfach, wenn eine monatelange Therapie auf dem Plan steht und die Klinik nicht, wie bisher nach einer ambulanten Behandlung, am gleichen Tag wieder verlassen werden kann. Allein die Sorge um die eigene Gesundheit beschäftigt dabei immens, doch auch die Situation mit dem Arbeitsplatz oder Fragen innerhalb der Familie müssen für diese Zeit neu gelöst werden.

      Der Weg ist hart und kostet viel Energie. Doch Kraft ist vorhanden. Wir müssen sie nur an der richtigen Stelle nutzen, anstatt auf falsche Strategien wie Ignorieren oder Hadern zu setzen.

      Ja, es ist ein Albtraum

      „Andi, du hast Krebs, nicht irgendeine Blinddarmentzündung, die jeder Chirurg in Deutschland behandeln kann. Nein, Lymphknotenkrebs. Und deshalb gehen wir natürlich nach Freiburg. Auch wenn das für uns alle ein paar Umstände mehr bedeutet.“ Meine Stimme ist aufgebracht und ich sitze senkrecht auf der vorderen Kante des Sofas im Wohnzimmer. Seit Tagen machen wir uns Sorgen, wie es weitergehen soll. Die erste Chemotherapie hat zu keinem positiven Ergebnis geführt. Der letzte Befund war ein weiterer Schock. Doch soeben öffnet sich erstmals ein kleines vielversprechendes Türchen. Das Zögern meines Mannes kann ich deshalb nicht nachvollziehen. Er steht immer noch unschlüssig mit dem Telefon in der Hand vor mir.

      Vor ein paar Minuten hat er das Telefonat mit einem Hämatologen der Freiburger Universitätsklinik beendet. Der Arzt ist Leiter der Studie, nach der Andis weitere Behandlung erfolgen soll. Er bot Andi an, ihn direkt vor Ort zu therapieren. Die andere Möglichkeit ist ein Krankenhaus in Stuttgart, das jedoch immer in Absprache mit Freiburg agieren müsste. Und dass solche Rückfragen sehr viel Zeit kosten können, hat Andi in den letzten Tagen zur Genüge erfahren. Doch meine Argumente scheinen an ihm abzuprallen. In sich zusammengesunken sitzt er auf einem Hocker und starrt auf den Boden.

      Nun mischt sich auch meine Schwiegermutter ein, die unser Gespräch bisher schweigend verfolgt hat und bringt das Ganze auf den Punkt: „Andreas, in dieser Situation geht man nicht zum Schmidtchen, sondern zum Schmidt.“ Die Redewendung ist neu für uns beide und bringt uns trotz des Ernstes der Lage zum Lachen. Selbst Svenja quietscht mit und freut sich über den scheinbaren Stimmungswechsel. Andis Mutter hat vollkommen recht. Der Schritt muss erfolgen, egal was das für einen Kraftakt für alle Beteiligten nach sich zieht. Doch die Entscheidung liegt allein bei Andi.

      Es half alles nichts – kein Jammern, kein Klagen, kein Ignorieren, kein Schönreden. Wir mussten der Realität ins Auge sehen. Vor allem Andi. Er stand aufgrund der erfolglosen ersten Therapie zu diesem Zeitpunkt mehr unter Schock als nach der Krebsdiagnose am Anfang. Die Lage war brenzlig. Unsere Angst grenzenlos. Ein Albtraum. Doch Andi stellte sich ihm. Er ließ sich überzeugen und leitete selber noch am gleichen Tag die Aufnahme in Freiburg in die Wege. Diesen Schritt bereute er nicht einen einzigen Tag. Ganz im Gegenteil. Er hatte das Gefühl, alles versucht zu haben.

      Was genau bewirkt es, wenn die Bedrohung, der Verlust, der Schmerz oder die Veränderung in einer Krise wahrgenommen werden? Zumindest das Ignorieren und Verweigern hat ein Ende. Aber was genau bringt das? Welchen Vorteil? Durch das Ende der Verweigerungstaktik werden Kräfte frei, die bisher genau dafür benötigt wurden. Wir haben schlicht und einfach mehr Kraft zur Verfügung. Und diese können wir nutzen. Denn in der akuten Krisensituation benötigen wir davon besonders viel zum Weitermachen.

      Übertragen auf die Situation des schwer verletzten Unfallopfers bedeutet das: Wird er immer weiter ignorieren, dass seine Beine nicht mehr in der Lage sind, ihn zu tragen, verweigert er auch den Rollstuhl? Lässt er aber den Gedanken zu, dass der Rollstuhl nun einen Gehersatz darstellt, der es ihm ermöglicht, sich wieder ohne Hilfe von anderen Personen zu bewegen, kommt er auch tatsächlich vorwärts. Er kann seine Kraft, die er bisher immer für den Gedanken – ich werde bald wieder laufen können – verbraucht hat, in Energie für das Annehmen des Rollstuhls umwandeln.

      Und ähnlich verhält es sich auch mit den oben genannten Warum-Fragen. Sie verbrauchen zu viel Kraft. Dem Verletzten passiert das beispielsweise bei folgenden Sätzen: Warum bin ich nur so schnell gefahren? Warum hat der andere Autofahrer nicht richtig aufgepasst? Warum bin ich an dem Morgen nicht eine halbe Stunde später gestartet? … Diese Fragen helfen nicht weiter. Sie lassen sich nicht lösen. Und selbst wenn, bleiben seine Beine geschädigt. Es ist nicht die Frage nach dem Warum, die einen weiterbringt, sondern die Frage nach dem: Was ist jetzt zu tun? Oder: Wie schütze ich mich, wie wappne ich mich für die nächste Zeit?

      Ich sage nicht, dass diese Strategie einfach zu bewältigen ist. Ganz und gar nicht. Denn einen Schicksalsschlag wahrzunehmen, heißt ja noch lange nicht, dass Ängste, Verzweiflung und Sorgen verpuffen. Doch allein das Hinsehen ermöglicht eine Vorwärtsbewegung, während das Verleugnen der Realität genauso wie die Fragen nach dem Warum in die Irre führen.

      Bei der Recherche zu diesem Buch habe ich gelernt, dass auch der Vogel Strauß schlauer ist als sein Ruf. Obwohl sich das Gerücht über ihn stetig hält, steckt keines dieser Tiere seinen Kopf tatsächlich in den Sand. Im Gegenteil: Sie sehen ihren Feinden ins Gesicht, auch wenn sie sich manchmal hinlegen und den Hals senken, um für andere Tiere nicht gleich erkennbar zu sein. Würden sie den Kopf in den Sand stecken, hätten sie niemals eine Chance zur Flucht und wären jedem Raubtier sofort als Opfer ausgeliefert. Hinzusehen hilft also auch dem Vogel Strauß. Wie richtet ein Betroffener in einer Krise nun aber Schritt für Schritt den Blick auf die Realität, um dem Schicksal in die Augen zu sehen?

      Denk positiv – oder doch nicht?

      „Ich fühle mich den Ärzten völlig ausgeliefert. Ich bin eine Nummer und die rennen rein, blättern die Krankenakte durch, ohne groß aufzusehen, sprechen mit mir ihr Fachchinesisch und sind schon wieder weg.“ Die Stimme meiner Freundin Ute ist am Telefon kaum zu hören und zittert. Seit drei Tagen liegt sie im Krankenhaus. Diagnose Brustkrebs. Auch das weiß sie erst seit Kurzem. Operiert wurde sie heute. „Gestern wurde mir ein Laufzettel für das Screening in die Hand gedrückt: Lunge, Leber, Knochen. ‚Gehen Sie mal zu den Untersuchungen!‘, so eine Schwester. Das Blatt sah aus wie ein Einkaufszettel, bei dem angekreuzt war, was mitzubringen ist. Ob ich das seelisch alleine stemmen kann, war denen ganz egal. Ich weiß nicht mehr, wo oben und unten ist. Mir ist nur noch schlecht und ich will von allem einfach nichts mehr sehen und hören.“

      Hätte ich selber in den vergangenen Jahren nicht viele ähnliche Situationen wie meine Freundin durchlebt, wäre ich sicherlich der Meinung gewesen, sie nun ganz schnell wieder aufrichten zu müssen. Ich hätte ihr so viel positiven Zuspruch wie möglich erteilt und mich verbal an die gute Prognose und die hinter ihr liegenden Dinge geklammert.

      Doch so ließ ich sie weinen, jammern und sich beklagen, bis sie selber genug davon hatte. Ich hörte zu und fragte nach, ohne auch nur einmal das Gespräch ins Positive wenden zu wollen. Letztendlich ergab sich das auch ganz von alleine und nach einer halben Stunde waren wir schon wieder am Kichern, auch wenn das weitere Telefonat stimmungsmäßig von Höhen und Tiefen geprägt war.

      Es ist dieser Satz: „Denk positiv!“, von dem ich selber genug habe. Immer wieder habe ich ihn gehört, immer wieder hieß es von außen: nicht aufgeben, kämpfen, es wird besser, lasst euch nicht unterkriegen. Und mein Gedanke dabei war immer: Du hast ja keine Ahnung, auch wenn ich wusste, dass der Zuspruch freundlich und gut gemeint war. Trotzdem steckte auch in mir die Haltung, negative Gedanken möglichst zu verbannen. Heute denke ich anders darüber. Es hätte mir und bestimmt auch meinem Mann gutgetan, wenn wir gleich zu Beginn seiner Krankheit unseren Ängsten und Befürchtungen mehr Raum gegeben hätten. Es waren sicher sehr ähnliche Sorgen und der Austausch hätte uns geholfen. Doch größtenteils verschwiegen wir sie und klammerten uns an die Hoffnung, dass schon alles gut gehen wird.

      Ich halte nichts davon, die Augen vor der Realität zu verschließen, doch trotzdem bin ich der Meinung, dass besonders am Anfang – immerhin hat der Blitz gerade erst eingeschlagen – jeder Mensch, der eine Krise durchlebt, und auch die nahen Angehörigen, Verständnis für negative Gedanken, Mutlosigkeit und Pessimismus verdienen. Schließlich stehen sie momentan einem Scherbenhaufen gegenüber. Wann, wenn nicht jetzt, darf man sein Leben denn anzweifeln? Wann ist es einem schon mal vergleichbar schlecht ergangen?

      Wenn


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