Meine Trauer traut sich was. Andrea Riedinger
mit einem tiefen Einschnitt in ihr Leben konfrontiert werden, wollen die Realität ausblenden, indem sie sie nicht benennen.
In einem Märchen der Gebrüder Grimm muss die Müllerstochter aufgrund eines Versprechens ihr erstes Kind dem kleinen Männchen Rumpelstilzchen überlassen. Sie erhält jedoch die Möglichkeit, innerhalb von drei Tagen den Namen von Rumpelstilzchen zu erraten. Nur wenn sie das schafft, darf sie ihr Kind behalten. Wenn sie nicht den Namen dessen ausspricht, der ihr Glück bedroht, wird sie ihr Liebstes verlieren.
Anfangs ist sie der Situation hilflos ausgeliefert. Sie versucht es mit allen möglichen Namen, die ihr einfallen: von Kaspar und Melchior bis zu so exotischen und unwahrscheinlichen Namen wie Rippenbiest und Hammelswade. Keiner ist der richtige. Doch ein Zufall rettet sie. Ein Diener erfährt im Verborgenen den Namen Rumpelstilzchens. Sobald sie den wahren Namen ausspricht, sobald sie also die richtigen Worte für ihre Situation gefunden hat, ist die Bedrohung machtlos geworden. „… und riss sich selbst mitten entzwei“, heißt es im Märchen. Sobald sein wahrer Name ausgesprochen war, sind von Rumpelstilzchen nur noch Fetzen übrig geblieben.
So wie die Müllerstochter ohne das richtige Wort dem Geschehen hilflos ausgesetzt war, so geht es auch uns. Wir nennen alle möglichen Namen, nur nicht den einen. Sobald wir aber wagen, den richtigen, den wahren zu nutzen, also die Dinge beim Namen zu nennen, ist der Bann gelöst. Es sind Worte, die uns helfen, etwas Unvorstellbares zu benennen, unsere Ängste zu formulieren und sie nach und nach in den Griff zu bekommen.
„Ach, ich habe da was“, „Das schaffe ich“ oder „Das wird schon wieder“. Solche Umschreibungen benutzen Menschen für Krankheiten, über die sie eigentlich nicht sprechen möchten, weil sie Angst machen. Und genauso kommen diese Worte beim Gegenüber an: Sie wirken abwehrend. Der Wunsch von Freunden und Verwandten, sich nach Neuigkeiten zu erkundigen, wird im Keim erstickt. Ist das Wehwehchen unbedeutend, ließe sich dieses Verhalten nachvollziehen und wäre nicht weiter tragisch. Denn Wehwehchen vergehen. Wenn es sich aber um eine schwerwiegende Krankheit handelt, dann wirkt dieses Herunterspielen wie eine Mauer und verhindert genau das, was den Menschen menschlich macht: Mitgefühl und tätige Anteilnahme.
Wenn wir uns doch mit dieser Wortlosigkeit von unseren Nächsten abkoppeln, warum tun wir das dann? Warum benutzen wir für schlimme Dinge „Kosewörter“, obwohl genaue Definitionen und Namen vorhanden sind? Warum versuchen wir, uns die Realität so lange es irgend geht vom Hals zu halten? Warum schweigen wir, obwohl es doch so viel zu besprechen gäbe? Und dieses Schweigen ist nicht friedlich. Im Gegenteil. In uns drin tobt es. Und das ist gleichzeitig auch die Erklärung: Wir schweigen aus Ohnmacht und Entsetzen, die akute Bedrohung macht uns stumm. Die Erkenntnis, dass wir nichts tun können, um die Realität ungeschehen zu machen, macht uns fertig. Diese Hilflosigkeit ist schwer zu ertragen.
Um die richtigen Worte zu finden, müssen Betroffene hinsehen, das Problem beim Namen nennen. Erst so schaffen sie die Grundlage, um sich weiter mit der Situation auseinanderzusetzen.
Als mein Mann Andi und ich erfuhren, dass er an Krebs erkrankt war, versuchten wir uns mit der Krankheit, der Therapie und unserem neuen Alltag zu arrangieren. Das alles war schon schwer genug. Das Schlimmste aber war das Gefühl der Ohnmacht. Weil wir die Unausweichlichkeit nicht ertragen konnten, haben wir sie verleugnet.
Selbst „Profis“ wie die zuständigen Ärzte fanden nur schwer die richtigen Worte. Dabei behandeln Onkologen und Hämatologen doch regelmäßig schwer kranke Menschen! Sie sollten also durch ihre Ausbildung und Erfahrung zu heiklen Gesprächen in der Lage sein und diese mit Direktheit und Ehrlichkeit führen. Fehlanzeige! Vor der ersten Chemobehandlung stellte Andi der damals behandelnden Ärztin die Frage: „Werde ich es schaffen?“ Ihre Antwort: „Sie müssen.“ An diesem Satz hielten wir uns fest. Zehn Monate lang. Bis er plötzlich nicht mehr galt.
Dass wir noch lange nicht am Ende unseres Leidensweges angekommen waren, dass uns mit dem zweifellos bevorstehenden Tod meines Mannes noch viel Furchtbareres als die monatelange Behandlung erwartete, haben wir beide aus unseren Köpfen verbannt. Wir fanden keine Gedanken und somit keine Wörter für den Tod. Wir glaubten, dass die Auseinandersetzung mit ihm uns das letzte bisschen Sicherheit nehmen würde. Ein viel zu früher Tod durch eine mörderische Krankheit – so etwas Schlimmes passiert im Fernsehen, vielleicht dem Bekannten von Freunden oder einem fernen Verwandten. Aber das passiert doch bitte schön nicht uns! Das kann einfach nicht wahr sein.
Aber dann ist es doch geschehen.
Abschied ohne Worte
Ich sitze auf der Kante von Andis Krankenbett. Trotz früher Morgenstunde wird es langsam warm im Zimmer und die Markisen über den Balkonen fahren brummend nach außen. Vom Krankenhausflur ertönt gedämpftes Stimmengewirr und Geschirrklappern. Wie jeden Tag beginnt auf der Station langsam das Leben. Doch hier im Zimmer nicht.
Nichts ist alltäglich, wenig ist vertraut. Mir ist kalt und ich fröstele. Andis Hände wärmen mich und liegen in meinen. Er bewegt sich kaum mehr, muss gelagert werden. Trotzdem gibt er mir unendlich viel Halt. Doch das kann er nicht mehr lange.
„Er wird den morgigen Tag nicht überleben.“ Diesen Satz musste ich hören. Gestern. Erst schilderte der Oberarzt langwierig Andis Situation, ohne konkret zu werden. Viele Worte ohne Inhalt. Doch dann hatte ich ihn zu dieser direkten Antwort gezwungen. Auf einmal konnte ich es. Was ich selber monatelang verleugnet hatte, wollte ich nun endlich wissen. Ich musste es hören, um es wahrzunehmen. Wenige Stunden vor Andis Tod bewies ein Arzt Mut und redete Klartext.
Fassen kann ich es trotzdem nicht. Es ist unwirklich. Alles ist unwirklich. Doch es ist wahr. Er wird sterben. Er wird gehen, ohne sich zu verabschieden. Zumindest nicht mit Worten. Dazu ist er nicht mehr in der Lage. Seit fast einer Woche hat er nicht mehr gesprochen. Seine Augen ruhen auf mir. Auch mit ihnen kann man viel sagen. Doch es ist nicht das Gleiche. Und jetzt ist es zu spät. Wir haben unsere Chance verpasst. Wir wollten es nicht wahr werden lassen, aber das Leben lässt sich nicht austricksen. Wir haben uns an den sprichwörtlichen Strohhalm geklammert. Nun trägt er nicht mehr.
So vieles ist unausgesprochen geblieben. Plötzlich höre ich meine Stimme. Die Worte fallen schwer. Doch sie strömen aus mir heraus, auch wenn mir der Druck auf der Brust fast die Luft raubt und es in meinen Ohren rauscht. Dieser Monolog bringt mich an ungeahnte Grenzen. Ich konnte mir bisher nicht vorstellen, wie bedeutsam und wertvoll eine Stimme ist.
Es ist gut, dass ich Andi noch so viel habe sagen können. Ich hoffe, dass er es noch aufnehmen konnte. Doch eine Antwort habe ich nicht mehr bekommen. Ich habe zu spät begonnen, das Schweigen zu brechen.
Mein Monolog am Sterbebett hat mich verändert. In diesem Moment habe ich gelernt, dass Ignorieren nicht weiterhilft. Einem Schicksalsschlag kann man nicht ausweichen. Er trifft hart und schmerzhaft. Nichts kann einen vor diesem Schmerz bewahren. Auch nicht Verleugnen und Schweigen. Ganz im Gegenteil: Beides verstärkt nur die Unsicherheit, verlängert den Schmerz und macht ein aktives Umgehen oder gar ein Abschließen mit der Situation unmöglich. Dabei ist es so wichtig, aus der Passivität herauszukommen! Aus dem „Es-mit-sich-geschehen-lassen“. Denn die Sicherheit kommt nicht von allein zu uns zurück. Und ein „Zu spät!“ kann niemals mehr revidiert werden.
Es ist unsere Sprache, unsere eigene Stimme, die uns in Lebenskrisen Sicherheit oder zumindest ein Stück weit Halt gibt. Damit wir nicht völlig ausgeliefert sind und das Gefühl zurückgewinnen, unser Leben wenigstens teilweise wieder selber steuern zu können, müssen wir reden, ins Gespräch kommen. Ohne Gespräche mit uns, mit anderen, sind wir dazu verurteilt, in dem tiefen schwarzen Loch zu bleiben, in das uns das Schicksal hineingestoßen hat. Erst im offenen Dialog können sich Menschen in Krisensituationen mit der Realität auseinandersetzen. Das macht die Krise nicht ungeschehen, aber es nimmt uns das Gefühl des Ausgeliefertseins. Nicht nur mit sich selbst kommt man ins Reine. Im Austausch mit anderen finden wir neue Blickwinkel, im Gespräch erhalten Betroffene und Angehörige Halt und Beistand. Denn eine Stimme braucht ein Gegenüber. Das ist sehr wichtig.
Es passiert mir selbst auch heute noch, dass Menschen mir ausweichen, weil sie sich nicht in der Lage sehen, mit mir über mein Schicksal zu sprechen. Es gibt alte Bekannte, die die Straßenseite wechseln oder fluchtartig ein Geschäft verlassen, wenn sie mich sehen. Alles