Meine Trauer traut sich was. Andrea Riedinger
Hätten wir in Andis letzten Wochen und Monaten den Tod nicht ausgeblendet, wäre uns die Möglichkeit des Abschieds geblieben. Wir hätten noch mal in Worte fassen können, was uns das gemeinsame Leben geschenkt hat, was uns wichtig ist und wovor wir Angst haben. Es wäre ein Trost gewesen, vor allem im Nachhinein – für mich. Über seinen bevorstehenden Tod zu sprechen, wäre nicht einfach gewesen, aber diese Worte hätten uns Kraft geschenkt, da bin ich mir heute sicher. Aber wir fanden nicht den Mut dazu.
Aber auch wenn man weiß, dass man die Dinge beim Namen nennen muss, dass man im Gespräch auf lange Sicht Linderung erfahren wird, ist damit die Angst vor den Worten noch nicht verflogen. Wo kommt die eigentlich her?
Das Schweigen brechen
„Für dich.“
Andi reicht mir den Telefonhörer und gibt mir mit einer Geste zu verstehen, dass er das Anziehen unserer Tochter übernimmt. Ich verlasse das Kinderzimmer, melde mich und warte auf eine Reaktion.
Die Stimme meiner Freundin am Telefon hört sich völlig überrascht an: „Der klingt ja ganz normal!“
Während der Krankheit meines Mannes ging die Zahl der bei uns eingehenden Anrufe rapide zurück. Natürlich hatte ein Großteil des Bekanntenkreises erfahren, dass Andi an Krebs erkrankt war; doch um sich zu erkundigen, wie es ihm geht, riefen sie in der Regel nur bei engen Freunden von uns an. Nicht bei uns. Wenn Andi wieder einmal im Krankenhaus war, kamen ein paar mehr Anrufe bei mir an, aber wenn er daheim war, klingelte es kaum noch. Den Anrufern fiel es schon schwer, sich mit mir zu unterhalten, ein Gespräch mit meinem Mann ging vollends über ihre Kräfte. Andi direkt anzurufen, mit ihm zu sprechen, war für viele ein Ding der Unmöglichkeit. Die Angst davor, mit einem Schwerkranken zu sprechen, war zu groß.
Da seine Krankenhausaufenthalte nicht immer geplant waren, kam es ab und an zu Überraschungen am anderen Ende des Telefons, wenn er es war, der das Gespräch entgegennahm. Doch jedem, der unbeabsichtigt in so ein Telefonat hineinstolperte, ging es nach dem Gespräch deutlich besser. Wenn erst mal die Scheu verflogen und die erste Hürde überwunden war, merkten sie, dass es eigentlich ganz einfach war, mit Andi zu reden.
Und genau darum geht es: die Scheu und die Angst vor der ersten wirklichen Begegnung mit einem, der eine Krisensituation durchlebt oder durchlebt hat, zu überwinden. Einfach anfangen und dann schauen, wohin das Gespräch treibt. Je mehr einer im Vorfeld darüber nachdenkt, was er sagen könnte, umso schwieriger wird der Gesprächsanfang. Was soll ich bloß sagen? Wie soll ich es sagen? Wirkt mein Anruf neugierig? Was mache ich, wenn Tränen kommen? Vielleicht ist es der falsche Zeitpunkt? Die Gedanken kreisen und kreisen. Das Problem wird immer größer. Doch über all diesen Überlegungen geht sehr viel verloren: Spontanität, Herzlichkeit, Mitgefühl und eben auch Zeit.
Es ist vergebliche Mühe, auf den richtigen Moment zu warten, denn im schlimmsten Fall ist die Zeit abgelaufen und die Chance für klare Worte vorbei. Wichtig ist es, rechtzeitig den Mut zu deutlichen Worten zu finden. Also eher heute als morgen. Angst zu haben, ist normal, doch diese zu teilen und dabei eine Sprache zu finden, ist wertvoll und entlastend.
Es gibt keinen Grund dafür, Angst zu haben, etwas Falsches zu sagen, denn der Freund, der Verwandte, der die Krise durchmacht, ist immer noch der Gleiche. Der Unterschied besteht nur darin, dass etwas Schreckliches passiert ist, und allein mit der Geste eines Anrufes oder eines Gesprächs kann jeder seine Unterstützung und Anteilnahme ausdrücken. Viele Worte braucht es dafür nicht.
Wenn ich von mir selber ausgehe, hatte ich nach dem Tod meines Mannes ein unheimliches Redebedürfnis. Es war alles so unfassbar für mich, so unvorstellbar, dass ich unsere Geschichte immer wieder erzählte. Wer mich ansprach, mich ehrlich ansprach, sodass ich das Gefühl hatte, er möchte hören, wie es uns ergangen war, der konnte sich die nächsten Minuten auf das Zuhören beschränken. Und damit war das Eis meist schon gebrochen. Es ging allein darum, das Schweigen zu brechen und so seine Sprache wiederzufinden.
Das Gespräch zu suchen, mit klaren Worten, die nichts beschönigen, dem Menschen in der Krise beizustehen – dabei kann man nichts falsch machen. Nicht nur diejenigen, die in einer Krisensituation stecken, profitieren von dem Trost der anderen. Jeder, der sich dazu aufrafft, seine Teilnahme auszudrücken, wird feststellen, dass er sich im Anschluss besser fühlt. Und ist erst einmal die Scheu vor dem ersten Gespräch überwunden, werden weitere einfach folgen.
Nichts falsch machen können, das entlastet. Aber stellt sich eine neue Sicherheit im Umgang mit der Krise denn allein schon dadurch ein, dass der Gesprächsanfang geschafft ist?
Wenn die Worte fehlen, hilft zuhören
Am Tag vor der Beerdigung betrete ich zusammen mit Svenja das Untersuchungszimmer der Kinderarztpraxis. Sie ist nicht krank. Es ist ein Vorsorgetermin, den ich bereits vor Wochen für sie ausgemacht habe. Nun sind wir hier. Ich wollte nicht absagen. Was soll ich heute auch tun? Andi braucht meine Hilfe nicht mehr.
In der Praxis weiß man Bescheid. Auf dem Schreibtisch des Kinderarztes liegt die Todesanzeige. Svenjas Kinderarzt schließt die Tür und setzt sich uns gegenüber. „Wir wussten nicht, ob Sie kommen würden. Aber es ist gut, dass Sie hier sind. Was ist passiert?“ Hilflos zucke ich mit den Schultern, doch dann beginne ich mit leiser Stimme zu reden. Von Anfang an. Und er hört einfach zu. Er sitzt mir schweigend, aber aufmerksam gegenüber, während ich die letzten Monate in Worte fasse und mir die Tränen still über das Gesicht laufen. Svenja sitzt auf meinem Schoß, hat ihr Köpfchen an mich gelehnt und hält mich fest an der Hand.
Anstatt einfach da zu sein, zuzuhören und Anteil zu nehmen, macht sich der eine im Vorfeld so viele Gedanken über seine Worte, dass schnell der Mut zur Begegnung fehlt. Ein anderer verhaspelt sich in Floskeln, um etwas Allgemeingültiges beizutragen. „Die Zeit heilt alle Wunden“, diesen Satz kann nur jemand sagen, der sich noch nie in einer Krisensituation befand. So etwas will man wirklich nicht hören, wenn die Welt für einen in Trümmern liegt, auch wenn der Satz ein Körnchen Wahrheit beinhaltet. Denn Zeit verschafft einen gewissen Abstand. Mit dieser Distanz vom unmittelbaren Geschehen wird es nicht unbedingt gut, aber zumindest anders. Doch bis es so weit ist, dauert es lang. Im konkreten Schmerz hilft dieses Wissen kein bisschen.
Sie haben allein durch Zuhören viel mehr zu bieten, als Sie denken, auch wenn es auf den ersten Blick nach wenig aussieht. Sie müssen nicht viel sagen. Den aktiven Part wird Ihr Gegenüber einnehmen, denn bei ihm sind viele Dinge geschehen und es ist einiges in Unordnung geraten. Machen Sie sich als Familienangehöriger, Freund, Bekannter oder Kollege bewusst, dass es reicht, einfach zuzuhören. Es kann gut sein, dass der Betroffene, der am Anfang des Gesprächs noch äußerlich gefasst wirkte, nach kurzer Zeit in Tränen ausbricht. Tränen sind nicht schlimm. Sie wirken meist sogar reinigend.
Einfach nur zuzuhören ist schwerer als man denkt. Denn spricht man mit jemandem, der Schreckliches erleben musste oder immer noch muss, möchte man nicht, dass sich der andere nach der Begegnung schlechter fühlt. Ganz im Gegenteil. Jeder will helfen und dazu beitragen, dass es dem Gegenüber wieder besser geht. Das ist sehr ehrenhaft, aber es funktioniert einfach nicht. Zumindest nicht so.
Das größte Missverständnis liegt vor allem darin, dass viele denken, dem Betroffenen nun ganz viel Zuspruch und Trost spenden zu müssen. Sie möchten, dass sich ihr Gesprächspartner nach dem Gespräch besser fühlt als zuvor.
Sie verkennen, dass es meist genügt, ein Gespräch anzustoßen. Dazu reicht ein einziger Satz oder eine einzige ernst gemeinte Frage. Das Wichtigste ist, sich bewusst zu machen, dass niemand, kein Betroffener, kein Familienangehöriger, Freund, Verwandter oder Kollege ein Problem lösen muss oder kann.
Der hohe Anspruch an sich selbst macht die Situation häufig nur komplizierter, als sie ist. Niemand muss das Problem, das Leid, den Schmerz, die Ohnmacht und die Hoffnungslosigkeit seines Gegenübers auffangen, niemand kann die Last des anderen einfach beseitigen.
Wann kommt er wieder?
Diesmal halte ich Svenja auf dem Arm, als ich mich mit ihr am Vormittag erneut auf die Bettkante des Krankenbettes setze. Ich habe meine Tochter seit gestern Morgen nicht mehr gesehen. Ich kann sie nur an mich drücken, erklären kann ich ihr momentan nichts. „Pssssst. Papa, heia“, zischt sie ganz