Meine Trauer traut sich was. Andrea Riedinger
einfach nicht verstehen.
Was genau ist in der Krise denn der Auslöser für das Gefühl von Einsamkeit? Was ist im Vorfeld passiert?
Alles ist auf einmal anders geworden. Anders als gestern. Der Alltag hat sich rapide verändert. Ein Schicksalsschlag wirbelt das bisherige Leben heftig durcheinander. Nichts ist mehr so, wie es vorher war: Statt zur Arbeit gehen Betroffene von einem Tag auf den anderen in ein Krankenhaus. Und dort beschäftigen sie sich nicht wie bisher mit der Computersprache, den aktuellen Verkaufszahlen oder den kommenden Projekten. Sie treffen keine Kollegen bei einem Kaffee auf dem Flur und tauschen Neuigkeiten aus. Nein, sie müssen sich mit der verwirrenden Sprache der Medizin befassen, erhalten Therapiepläne und medizinische Cocktails. Die Türen der Nachbarzimmer bleiben meist verschlossen, die Gesichter auf den Fluren sind fremd. Die Familie ist nicht greifbar. Aber auch gesunde Menschen können durch Schicksalsschläge wie Trennung oder Jobverlust aus dem bisherigen Leben gerissen werden. Anstatt abends mit Freunden Squash oder Skat zu spielen, sich zum Joggen zu verabreden oder sich auf ein Bierchen zu treffen, liegen Betroffene nun kraftlos auf dem Sofa, sind antriebslos und müde oder haben Geldsorgen. Ein abendlicher Kino- oder Theaterbesuch sprengt plötzlich das Budget, weil das Geld für anderes gebraucht wird. Jede Krise hat ihr eigenes Gesicht.
Wenn uns etwas Schlimmes widerfährt, verlieren wir unsere Autonomie. Obwohl wir uns nicht freiwillig in diese Lage gebracht haben, können wir nichts daran ändern. Ausgelöst durch eine überraschende Diagnose, eine plötzliche Kündigung oder einen anderen einschneidenden Vorfall kann man viele Entscheidungen nicht mehr selbst treffen. Wer noch selbst entscheiden kann, ist in der Lage, Vorkehrungen zu treffen. Er kann beispielsweise bei einer geplanten Operation einen Termin irgendwann in den kommenden Wochen vereinbaren – eben dann, wenn es für ihn passt. Er hat die Möglichkeit, gewisse Vorbereitungen zu treffen, wie z. B. eine Vertretungsregelung für sein Geschäft zu organisieren, die Betreuung des Hundes zu Hause zu regeln, Familie und Freunde zu informieren, Besuche abzustimmen oder die Hin- und die Rückfahrt ins Krankenhaus zu planen. Zudem könnte sich der Kranke im Vorfeld mit der Operation und der Genesungsphase auseinandersetzen, im Vorgespräch Fragen stellen und so ungefähr abschätzen, was auf ihn zukommt.
Die Situation sieht ganz anders aus, wenn es beim ersten Arztgespräch heißt: „Bleiben Sie gleich da. Ein Bett steht bereit. Morgen werden Sie operiert und direkt im Anschluss an dieses Gespräch müssen diverse Voruntersuchungen erfolgen.“ Diese Sätze kommen aus dem Nichts, völlig abrupt und absolut unerwartet. Gleich zweimal konfrontierten die Ärzte meinen Mann mit einer ähnlich lautenden, überraschenden Entscheidung. Das kommt unerwartet und schockierend. Trotzdem kann man den Verlauf nicht aufhalten oder stoppen. Schwerkranke oder Menschen, die einen Unfall erleiden – und ihre Angehörigen –, haben keine Wahl.
Der Tagesrhythmus verändert sich mit einem Schlag und diese Menschen können ihren täglichen Ablauf von heute auf morgen nicht mehr aufrechterhalten. Das trifft jeden von uns unsagbar hart. Und genau dabei entsteht das Gefühl von Einsamkeit. Gerade in der Zeit in Freiburg habe ich das deutlich gespürt. Meine Wege führten nun täglich für Stunden in ein Krankenhaus. Ich hatte keine Chance mehr, meine Zeit hauptsächlich meinem Kleinkind zu widmen. Kein Schwimmkurs, kein Musikgarten, keine Krabbelgruppe. Weit weg von Freunden oder der Familie. Ja, wir befanden uns noch nicht einmal mehr in unserer vertrauten Wohnung, sondern in den unterschiedlichsten Ferienwohnungen, in denen wir uns jedes Mal neu zurechtfinden mussten.
Einsamkeit entsteht durch das Wegbrechen der Selbstbestimmung. Denn gerade im Alltag sind wir es schließlich gewohnt, selber zu steuern. Bestimmt treffen auch Sie über den Tag verteilt zahlreiche Entscheidungen: Vor dem Frühstück gehe ich eine Runde walken, zum Mittagessen treffe ich mich mit einem früheren Kollegen, an der Besprechung nachmittags nehme ich nicht teil, den Urlaub an die Costa Brava buche ich später im Internet, heute Abend gehe ich mit Freunden italienisch essen. Diese kleinen und alltäglichen Entschlüsse in unserem Alltag erfolgen laufend und häufig spontan.
Bei größeren Vorhaben sieht es anders aus. Wer lässt sich schon sofort auf große Veränderungen ein, ohne zu überlegen und Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen! Lieber erst in Gedanken alles durchspielen, bevor es zur Entscheidung kommt: Bringt mir der Jobwechsel berufliche und finanzielle Vorteile? Eigentlich ist mein jetziger Job gar nicht so schlecht. Ist ein Umzug wirklich notwendig oder kann ich eventuell pendeln? Soll ich die neue Beziehung wirklich eingehen? Vielleicht passen wir gar nicht zueinander. Nur wenige nehmen neue Herausforderungen an, ohne mit der Wimper zu zucken. Wir können uns von Vertrautem und Alltäglichem nicht im Handumdrehen lösen. Diese freiwilligen Entschlüsse müssen aber auch keine negativen Folgen haben. Ganz im Gegenteil. Oft birgt eine Änderung auch neue Perspektiven, neue Erfahrungen und Erkenntnisse. Es entstehen dabei positive Gefühle wie Motivation, Entdeckerlust, Freundschaft, Liebe und neuer Mut.
Doch in einer Krise ist das ganz anders. Sie konfrontiert uns mit einer riesigen Veränderung im Leben, für die man sich selber nicht entschieden hat. Und das ist neu. Menschen in Krisen fühlen sich fremdbestimmt und haben die Möglichkeit zu steuern verloren. Die Situation lässt kein Nachdenken zu. Der Einzelne hat keine Möglichkeit mehr zum Abwägen. Und auch keine Wahl. Die Einschnitte in den Alltag sind radikaler und plötzlicher als jemals zuvor. Die Herausforderungen immens. Und auch vor negativen Folgen ist man keinesfalls sicher.
Was geht uns durch diese fremdgesteuerte Umstellung eigentlich verloren?
Kein Papa mehr beim Frühstück
„Also, tschüss. Wir telefonieren ja später noch mal. Bis dann.“ Schon will ich die Zimmertür zum Krankenhausflur nach diesen Worten leise schließen, als Andi mir nachruft: „Warte mal. Ich glaube, wir lassen das mit den Anrufen morgens und abends.“ Mit einem Ruck reiße ich die Tür wieder auf und starre ihn an. „Was? Wieso das denn?“ Hinter mir fällt die Tür geräuschvoll ins Schloss und ich stehe verwirrt wieder neben seinem Bett. Mein abendlicher Aufbruch ist erst einmal verschoben. „Ich will nicht immer an die Anrufe denken müssen, und ich habe Angst, dass ich es mal vergesse und ihr dann umsonst darauf wartet.“ Andis Stimme klingt entschuldigend und gleichzeitig sehr entschlossen.
Ich habe es geschluckt. Was blieb mir auch anderes übrig. Seine Kraft hatte nachgelassen. Chemos, Tabletten, Strahlung – das alles hatte einen hohen Preis: Die physischen und konditionellen Einschränkungen waren unübersehbar.
An diesem Abend ging etwas verloren: ein kleines Stückchen Vertrautheit. Denn in dieser unsicheren Zeit hatte ich mich wenigstens noch auf eines verlassen können – auf die Telefonanrufe meines Mannes. Seit seinem ersten Krankenhausaufenthalt rief er direkt nach dem Aufwachen zu Hause an, um uns Guten Morgen zu sagen und griff vor dem Schlafengehen nochmals zum Handy, um eine gute Nacht zu wünschen. Telefonate in die andere Richtung funktionierten nicht, da er sehr unregelmäßig schlief. Acht Monate praktizierten wir das so, und es hat uns allen etwas geholfen, seinen leeren Platz, gerade morgens beim Frühstück und abends im Bett, besser zu verkraften. Doch plötzlich rief niemand mehr zu diesen Zeiten an. Das Vertraute war einfach verschwunden.
Es ist die Verlässlichkeit, die von heute auf morgen fehlt. Stellen Sie sich vor, Gewohnheiten und Abläufe gehen ganz plötzlich verloren, die Sie bisher für selbstverständlich gehalten haben. Beispielsweise Folgendes:
• Der Wecker, der an jedem Werktag um 6.30 Uhr klingelt.
• Die Hektik und der Blick zur Uhr beim Anziehen und Frühstücken.
• Der Weg zum Bahnhof, der bei Wind und Wetter für ein bisschen Bewegung am Morgen sorgt.
• Das Mohnbrötchen, das die Bäckereiverkäuferin jeden Morgen in die Tüte packt.
• Die U-Bahn, die mit zwei Minuten Verspätung auf den Bahnsteig rollt.
• Täglich die gleichen Gesichter, denen man auf dem Bahnsteig begegnet.
• Das Lesen der Tageszeitung, während das surrende Geräusch der Schienen zu hören ist.
• Der Kollege, der immer drei Haltestellen später zusteigt und sich neben einen setzt.
• …
Was passiert, wenn es das alles nicht mehr gibt und diese Situationen nicht