Entspannt Mutter sein. Annemarie Pfeifer

Entspannt Mutter sein - Annemarie Pfeifer


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wohl in den allermeisten Fällen zwischen den beiden Polen der allumfassenden Liebe einerseits und massiver Ablehnung und Destruktivität andererseits angesiedelt ist. Glück, Zärtlichkeit und das Gefühl der Verbundenheit finden darin ebenso Platz wie Enttäuschung, Wut und Frustration, die Vorstellung symbiotischer Verschmelzung ebenso wie ein ausgeprägtes Individuationsbedürfnis – mit einem Wort: alle Facetten, die andere Liebesbeziehungen auch aufweisen.“10 Entspannen Sie sich also, auch wenn Sie hin und wieder im negativen Bereich der Gefühle schwingen. Deswegen müssen Sie sich noch längst nicht schuldig fühlen.

      Niemand soll es wissen …

      Kürzlich saß die Mutter eines Teenagers weinend in meinem Sprechzimmer. Ihre Familienwelt war in den letzten Wochen buchstäblich zusammengestürzt. Ihr einziger Sohn musste wegen ungenügender Leistungen die Schule verlassen, in der sich daran anschließenden Lehre wurde ihm nach drei Monaten gekündigt, da er die Berufsschule kaum besuchte. Der Stresspegel stieg weiter, als sich mitten in der Nacht die Polizei meldete, weil er im Besitz von Drogen aufgegriffen wurde. Aus dem netten Jungen, der vor Kurzem noch eifrig Fußball gespielt hatte und völlig unauffällig war, hatte sich ein rebellischer, unberechenbarerer, junger Mann entwickelt. Gefühlsmäßig herrschte das nackte Chaos: Sorge, Wut, Trauer, Verzweiflung, Selbstvorwürfe, Selbstzweifel und Scham, aber auch Liebe für ihr Kind wirbelten wild durcheinander. Die Mutter erzählte weiter: „In der Straßenbahn wurde ich von einer Mutter aus dem Fußballklub angesprochen. Auf die Frage nach dem Ergehen von Noah wich ich aus. Erst, als sie zu erzählen begann, dass ihr Sohn zurzeit eine Krise schiebe, wagte ich, über die eigenen Probleme zu reden. Es war so eine Erleichterung, als ich merkte, dass ich mit meinen Problemen nicht allein bin.“

      Vielen Müttern geht es ähnlich wie ihr. Da bricht plötzlich eine Art Tsunami ins Leben ein, aber man wagt aus Angst vor Kritik nicht, davon zu erzählen, und fühlt sich als die schlechteste Mutter der Welt. Dieses schamgetriebene Geheimhalten normaler Probleme beschreibt auch eine Frauenärztin von ihren Patientinnen: „Als ich anfing, als Gynäkologin zu praktizieren, war ich selbst Mutter von zwei Kindern und kannte das Muttersein aus eigener Erfahrung. Meistens fragte ich die neu entbundenen Frauen, wie sie daheim zurechtkämen. Wenn dann die Antwort ein glattes ‚Sehr gut‘ war, sagte ich: ‚Da haben Sie wirklich Glück. Meine Kinder gehen mir ganz schön auf die Nerven.‘ Damit war im Allgemeinen das Eis gebrochen und wir konnten offener miteinander sprechen.“

      Es gibt viele Begebenheiten, die uns zur Weißglut treiben können. Sibylle berichtete mir verschämt: „Ich wage es kaum, es Ihnen zu sagen“, begann sie zögernd. „Aber manchmal fürchte ich mich vor mir selbst, weil ich meinen Zorn gegen meine Kinder kaum beherrschen kann. Wenn sie zum Beispiel schreiend in der Badewanne sitzen und lautstark gegen das Haarewaschen kämpfen, habe ich hin und wieder den Impuls, sie kurz mit eiskaltem Wasser abzuduschen, damit sie wissen, warum sie schreien. Ich bin so dankbar, dass es nie dazu gekommen ist und ich noch einen Funken Kraft aufbrachte, um ruhig zu bleiben. Ich hätte nie geglaubt, dass es mit mir einmal so weit kommen könnte, denn eigentlich habe ich meine Kinder lieb. Ich schäme mich so sehr, denn das passt überhaupt nicht zu meiner Überzeugung als Christin.“

      Während des Gesprächs spürte ich förmlich ihre Erleichterung. Endlich konnte sie ihr dunkles Geheimnis und ihre Schuldgefühle mit jemandem teilen, der sie nicht verurteilte, sondern sie zu verstehen suchte.

      Mütter von herausfordernden Kindern müssen sich mit noch größeren Gefühlsstürmen auseinandersetzen als jene mit unauffälligen Kindern. So sind zum Beispiel Eltern von Kindern mit ADHS (hyperaktiven Kindern) über Jahre einem erhöhten Stress ausgesetzt. Die Probleme beginnen oftmals bereits in der Säuglingszeit, wenn die Mutter dem unablässigen Schreien des Babys hilflos gegenübersteht. Sie leidet unter seinen Schlafstörungen und kann es nicht zufriedenstellen. Später strapazieren Stimmungsschwankungen und impulsive Handlungen auf Seiten des Kindes das Familienleben. Und zusätzlich werden die Eltern ungewollt zum Dauergast in der Schule des Sprösslings, da dieser eine beinahe unbegrenzte Fantasie zur Störung des Unterrichts entwickeln kann.

      Auch Mütter von Teenagern klagen über mühsame Gefühlsschwankungen. Oft werden sie vom unberechenbaren Verhalten des Jugendlichen aus dem Gleichgewicht gebracht. Zusätzlich zehren auch noch all die Veränderungen, die die mittlere Lebensphase mit sich bringt, an ihrer Substanz: die Ablösung der Kinder, die Suche nach einer neuen Lebensgestaltung, hormonelle Veränderungen.

      „Oft fühle ich mich selbst wie ein Teenager, manchmal himmelhoch jauchzend und dann wieder zu Tode betrübt“, beschrieb eine 43-jährige Frau ihren Zustand.

      Der gegenseitige Ablösungsprozess schafft Unsicherheiten, Grenzen wollen ausgelotet sein und die eigene Meinung schärft sich in der Abgrenzung von der Mutter. Es ist für Eltern sehr anstrengend, wenn sie als eine Art Mülleimer dienen müssen, in dem die Kinder all ihre negativen Emotionen entsorgen.

      Doch auch wenn es mittlerweile Literatur zu diesem Thema gibt, sind negative mütterliche Gefühle immer noch ein Tabuthema. Schließlich will frau keine Rabenmutter sein. Die israelische Forscherin Orna Donath hat mit ihrer Studie Das Muttersein bereuen: Eine gesellschaftspolitische Analyse11 eine hitzige und kontroverse Debatte ausgelöst. 23 Frauen sprechen darin über ihre Erfahrungen als Mutter. Alle betonen, dass sie ihre Kinder lieben, aber trotzdem heute entscheiden würden, keine Kinder zu bekommen. Das hört sich krass an, aber kennen Sie nicht auch jene Stunden, in denen Sie sich danach sehnen, sich zu entspannen, einmal keine Verantwortung zu tragen oder ganz einfach ein paar Tage allein zu sein?

      In einer deutschen Studie wurden mehr als 2000 deutsche Eltern nach ihrem Ergehen befragt. Die Resultate machen betroffen: Nach der Geburt des ersten Kindes erlebten 70 Prozent der Eltern eine Verringerung ihrer Lebensqualität, bei mehr als einem Drittel der Eltern sackte der auf einer Skala von 0 (völlig unzufrieden) bis 10 (völlig zufrieden) ermittelte Wert um 2 oder mehr Punkte ab. Die Stimmung liegt damit sogar tiefer als der Durchschnittswert, der bei Schicksalsschlägen wie dem Tod des Partners ermittelt wurde.12

      Stimmungstiefs gehören zum Muttersein. Behalten Sie jedoch diese negativen Empfindungen bitte nicht für sich. Viele Mütter machen gute Erfahrungen, wenn sie ihren Frust mit ihren Freundinnen teilen. Es ist äußerst erleichternd, wenn man merkt, dass es den anderen ähnlich ergeht. Denn dann kann man gemeinsam überlegen, wie man die Probleme angehen kann. Und manchmal hilft es ganz einfach, wenn jemand nur mal verständnisvoll zuhört.

      Schaden negative Gefühle den Kindern?

      Wird man schuldig, wenn man nicht immer ausgeglichen und fröhlich ist, und schadet man den Kindern damit? Nein, denn Gefühle sind ein Ausdruck unserer Befindlichkeit und nicht zwingend mit falschen Handlungen verknüpft. Wie ein Barometer zeigen sie die Wetterlage in der Familie an. Da gibt es sonnige Aufhellungen, aber auch Gewitter und Sturm.

      Auch Jesus zeigte Gefühle: Freude, wenn er sah, wie jemand Gottes Wort aufnahm; Mitleid und Trauer, wenn er mit leidenden Menschen zusammentraf; Ärger, als seine Jünger Kinder wegschicken wollten; Zorn, als er die lärmenden Händler aus dem Tempel vertrieb, aber auch Angst, als er im Garten Gethsemane auf die Häscher der Priester wartete. Gefühle werden in der Bibel nicht verdrängt, sondern dürfen frei geäußert werden – auch vor Gott. Jesus liebt uns nicht nur, wenn es uns gut geht, sondern auch in Zeiten der Müdigkeit und des Versagens.

      Kinder wachsen an den positiven und negativen Gefühlsäußerungen ihrer Mutter. Schon 1992 kamen die Autoren einer amerikanischen Studie, welche die Folgen von mütterlichen Gefühlsausbrüchen untersuchte, zu folgendem Schluss: „Mütter, die ihre negativen Emotionen erklärten, hatten Kinder, die beziehungsfähiger und sozialer waren.“13 Die Schweizer Psychologin Irene Rohrer führte diesen Gedanken 2012, also zwanzig Jahre später, in einem Onlineartikel weiter aus: „Je authentischer die Eltern im Umgang mit ihren Gefühlen sind, desto besser geht es den Kindern. Die Eltern werden dadurch auch berechenbarer. Es ist nicht sinnvoll und zudem nicht möglich, die Kinder vor den Gefühlen der Eltern zu schützen, denn die Kinder spüren genau, wenn etwas nicht stimmt. Und wenn nicht darüber gesprochen wird, verunsichert dies das Kind stark […] Ehrlichkeit ist die Grundlage für eine gesunde Entwicklung des Selbstwerts.“14

      Die Psychologin warnt allerdings davor, dauernd alle Gefühle vor dem Kind auszubreiten. Dies


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