Solo für Schneidermann. Joshua Cohen

Solo für Schneidermann - Joshua  Cohen


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vom letzten und finalen Mal, wo Schneidermann und ich jeder für sich entschieden hatten, zusammen wie immer ins Kino zu gehen, in einen Matineefilm wie immer, nicht dass ich ihn oder Schneidermann mich auf der Leinwand gesehen hätte, Gott bewahre!, aber wir sahen einander erst im Foyer vor dem Kartenschalter und gingen dann zusammen rein, in kunstinspiriertem Schweigen, in Saal 7, Reihe S, Platz 17 und 19, immer mit einem leeren Sitz zwischen uns, Platz Nr. 18, durch einen zwischen uns liegenden Sitz getrennt, unsere regenfeuchten, nach Samen stinkenden Jacken in der Mitte, die mezzo termine war, dieser uns trennende Sitz Nr. 18 wurde je nach Jahreszeit von meinem Kunsthermelin eingenommen, der auf seiner brechreizenden Schmate lag; dass wir eine kaputte Sprungfeder auseinander saßen, war unser Brauch, unsere Gewohnheit, war unser Ritual, unsere Tradition, um diesen Matineefilm zu sehen, als Zuschauer in diesem einen, letzten Matineefilm zu sitzen, diesem letzten Film von vielleicht fünf- oder sechstausend, die Schneidermann und ich im letzten halben Jahrhundert zusammen gesehen hatten, und was machte er in diesem Film, in dessen ausgedehnter Mitte, im sich abspulenden Mittelteil?

      Schneidermann, er stand einfach auf, krebste erst Hintern voran herum, tattertorkelnd vom Alter ebenso wie vom OLD GRAND-DAD-Whiskey, den er getrunken hatte, dann durch die Reihe, auf Schuhe tretend und auf hirnförmiges Popcorn, in den Gang und hinaus.

      Und kam nicht mehr zurück. Nie mehr. Nach etwa einer Stunde und ein paar Minuten. Achtzehn. Gegen 16.00 laut meiner Aussage ging Schneidermann, und ich nahm an, wie ich der Polizei mitteilte, gegen allen Rat, den ich in den Wind geschlagen hatte, zum Pissen (Schneidermann, er hatte einen Krieg in seinem Harntrakt, oft erleichterte er sich einfach in seinen halbvollen Limobecher, und dann musste ich ihn daran erinnern, nicht daraus zu trinken, seinen Loopingstrohhalm zusammenzukneifen, ihn herauszunehmen),

      oder vielleicht wollte er im Foyer herumjuden, wie er immer sagte, um noch mal was gratis zu kriegen, einen Nachschlag auf das Abgestandene,

      Popcorn wie Weißköpfchentumore,

      oder etwas Limo,

      non gassata, weil Schneidermann wie alle Juden Gas hasste, also nur medizinischen Zuckersaft, sirupartig dunkel und trocken wie Tokajer, sagte Schneidermann immer (Schneidermann, er war ein langjähriger Imbisskunde auf meine Kosten),

      und als Schneidermann mich verließ, ließ er dieses Buch zurück: sein liebstes (oder zweitliebstes),

      kostbarstes (zweitkostbarstes),

      jedenfalls hochgeschätztes Buch, ließ es in einer Jackentasche stecken, Schneidermann, er ließ nämlich auch seine Jacke zurück, also auch deren Taschen, und in einer davon fand ich Platos Phaidon im Original, womit ich Mühe habe und immer haben werde,

      kam nie mehr zurück,

      niemals, verschwand spurlos, verdünnisierte sich einfach, und weg war er, puff! niemand hat oder ich jedenfalls habe ihn nie wiedergesehen oder von ihm gehört, sein Zimmer – wenn man das so nennen konnte, es war ja eher der quadratische Rumpf einer Zwangsjacke – sah aus wie immer, unordentlich, havariert, von unbekannten Geheimdiensten schon gefilzt wie immer (Schneidermann, er behauptete nach Thriller-Matineefilmen oft, die NSA würde aktiv Pianisten rekrutieren, die sie nicht liquidieren wollten, solche, die sich nicht, wie er immer sagte, ans Programm hielten),

      und glauben Sie nicht, man hätte mich in die City gebracht, zur Befragung einmal quer durch die Stadt, denn das geschah nicht. Gegen die wie auch immer gemeinten Ratschläge meiner Anwälte und ihrer, meiner Ex- und weiterhin Frauen, meiner Söhne und sogar meines Anwaltssohns, meines Agenten und meines bewährten Foyer-Barkeepers im Grand, bin ich aus eigenem Antrieb hingegangen, um mit mir im Einklang zu sein – aber wissen Sie was, meine Herren, Sie, die Cops da draußen im Publikumsland, was Sie nicht gefragt haben? zu ermitteln versäumt haben? nie wissen wollten?

      Sie wollten nie wissen, welchen Film Schneidermann und ich da sahen, welche gottverdammte Zeitverschwendung von Matineefilm wir da schon zur Hälfte absolviert hatten, wovon wir fast die Mitte erreicht hatten – es ist ein langer Streifen, nimmt überhaupt kein Ende –, und Schneidermann, er könnte sich gesagt haben, dass er einfach genug davon hatte, auf jeden Fall hat er einfach beschlossen, das Lichtspielhaus zu verlassen.

      Unvorstellbar. Unglaublich. Ein Versehen, da bin ich sicher. Eine bedauerliche Idiotie. Ein Fehler, nicht wenigstens im Vertrauen zu fragen, um unsere Ästhetik zu schützen und jegliche Unschuld, die meinem Ruf etwa noch anhaften könnte, welche nachmittägliche Unterhaltung im tiefsten Winter – unter Schmerzmitteln, die ich jetzt immer nehme, unempfänglich für alle Leinwandgötterbotenstoffe,

      betäubt – welche abgedroschene nachmittägliche winterlichste Unterhaltung im tiefsten Winter um 15.00 an einem Wochentag begann, an welchem, hab ich vergessen, aber das steht alles im Bericht, den der Detective Anfang des Monats, Anfang Dezember 2002 angefertigt hat, vielleicht am vierten oder fünften Tag von Chanukka? könnte ein Donnerstag gewesen sein, oder ein Mittwoch,

      jedenfalls der bedauerlichste, peinlichste, dämlichste, sinnloseste Wochentag für Matineefilme – fast drei Wochen ist das jetzt her, in einem Kino, das nach dem passionierten Theaterbesucher, unserem Präsidenten Abraham Lincoln, benannt war, oben an der West 68th Street, das ist ein Loew’s aus der Loew-Dynastie, der anglisierten Löw-Kette, amerikanisiert wie jetzt alles und ohne Umlaut,

      und für Schneidermann war früher Schluss, als er nach einer Stunde und achtzehn Minuten ging, fast drei Wochen ist das jetzt her, und Sie wissen noch immer nicht und werden auch nie wissen, ob ich mir das alles aus den Fingern sauge oder nicht,

      nur improvisiere,

      erfinde,

      interpretiere,

      meinen Willen aufzwinge, aber der Film war jedenfalls ein Film über den Holocaust, ja, das war ein Holocaustfilm,

      und für diejenigen unter Ihnen, die in Schlaglöchern oder Ghettos hausen: Ein Holocaustfilm ist ein Film, der den Genozid oder den versuchten Genozid am europäischen Judentum thematisiert oder zu thematisieren versucht.

      Er war grau. Schwarz und Weiß kämpften. Juden starben. Ich aß Minzbonbons. Mein linkes Bein schlief ein.

      Der Matineefilm kam für einen Monat neu in die Kinos, war aber eigentlich fast ein Jahrzehnt alt, von 1993, glaube ich, es war eine Neuveröffentlichung anlässlich des zehnjährigen Jubiläums, ein Film, der im Jahr darauf einen goldenen Götzen namens OSCAR für den BESTEN FILM gewonnen hatte (1994, ich glaube, es war die 66. Vergabe der Academy Awards durch die Afroamerikanerin, die sich für eine Jüdin hält und Whoopi heißt, glaube ich, aber ich krieg sie immer mit Oprah durcheinander) und noch sechs weitere Schmarotzerpreise für praktisch alles andere absahnte,

      und den Film über das Klavier ausstach, der hieß DAS PIANO, den haben Schneidermann und ich gesehen und konnten ihn nicht ausstehen, weil die Schlampe, die der Star vom PIANO war und die auch das titelgebende Klavier spielte, furchtbar war, fand Schneidermann, sie war hoffnungslos, hatte weder Gehör noch Technik.

      Der Holocaust-Matineefilm, der bei den Preisen so absahnte, war jedenfalls ein Film von einem Mann mit einem Bart.

      Manchmal trägt er auch einen Hut über dem Bart.

      Der Film war von einem Mann, der so gut träumt, dass wir alle nicht mehr träumen müssen, wie Schneidermann, er sagte das oft und eifersüchtig,

      ein Film vom Lieblingsregisseur meines verschwundenen Freundes, den Sie vielleicht unter dem Namen SPIELBERG kennen.

      Es war ein Film über die Juden und die Nazis und über das, was die Nazis den Juden angetan haben, ein Film über einen Mann, der ein Nazi war, der etwas bewirkte, wie alle Menschen auf die eine oder andere Weise etwas bewirken, ein Nazi, der seine Seele rettete, und der Talmud sagt und dieser Film erinnert uns, wer nur ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt – ach, falls Sie das interessiert: Dieses Sprichwort, das sich der Holocaust-Matineefilm für seine Zwischentitel aneignet, steht in den Sanhedrin 37A, wie meine Tochter, die Rabbinerin, mir letzte Woche erklärt hat, in der Mischna, um genau zu sein, und wörtlich lautet es, wer eine Seele Israels rettet und so weiter und so fort, aber das ist wohl nichts für ein Publikum aus Familienmenschen, wie Schneidermann sagen würde,


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