Solo für Schneidermann. Joshua Cohen

Solo für Schneidermann - Joshua  Cohen


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und stilles Studium der Vergangenheit, um die Zukunft kennenzulernen, für ein wahres Lernen, das nicht nur mit vier Saiten und einem Bogen zu tun hatte (Chaucer habe ich beispielsweise erst mit siebenundfünfzig gelesen, in scheckigen Imbissen im Mittleren Westen, Celans Gedichte, die Schneidermann mir empfohlen hatte, habe ich erst mit sechzig entdeckt, in einem Taschenbuch mit Übersetzungen in einem Buchsupermarkt in Midtown für 17,95 Dollar),

      keine Zeit für echte humanistische Bildung, so dass ich eigene Humanität hätte ausbilden können, und darum verdanke ich alles, was ich weiß, den Erfahrungen Schneidermanns, der als Komponist gezwungen war, sich die Musik wie das Leben mühsam anzueignen,

      der sich Musik und Leben mühsam aneignen musste, um zu überleben,

      der von Polen angeeignet wurde, während ich mich nach Amerika einschiffte,

      und alles, was ich weiß, ist auf die Schnelle erworbenes Hörensagen:

      Klatsch & Tratsch, Aufgeschnapptes aus x-ter Hand, Lügen & Prophezeiungen, Kondolenzen, Konfessionen & Komplimente,

      meine Menschenkenntnis lässt sich auf die Kenntnis schmutziger Witze, dreier Rezepte und des Totengebets eindampfen, mein Hebräisch ist das Jiddisch eines reformierten Idioten, und auch wenn ich etwas von der Welt gesehen habe,

      aus Polen fast bis zu den Polen gereist bin und von Warschau bis ins texanische Warsaw an der Route 148,

      weiß ich nichts; und auch wenn ich vielerorts für eine Inkarnation gehalten werde, einen Mandarin der Mandarine, bin ich nur ein Mann, der gelebt hat, der ein leichtes Leben hatte, der (nichts) überlebt hat,

      und der leicht überlebt hat (denn da war ja nichts),

      der sein Ohr und sein Hirn aufgesperrt hat

      und auch den Mund nach poulet frites in Paris, ich habe in Berlin Kaffee getrunken, in Prag guláš gegessen und in Moskau БОРЩ (jahrelang waren Speisekarten meine einzige Lektüre),

      ja, ich habe Mund und Ohr für unbeholfenes Hebräisch aufgesperrt, unflätiges Jiddisch, förmliches Deutsch, musikalisches Französisch und Italienisch, ich verfüge über das ungrammatische Ungarisch eines Zehnjährigen, denn mein Gedächtnis,

      vereinzelte Brocken Tschechisch / Slowakisch / Polnisch / Panslawisch dank Russischschnipseln, egal, diese Sprache und meine wahre Muttersprache, die Musik – Musik als die wahre lingua franca der Welt, während mein Latein wie ARS GRATIA ARTIS bestenfalls auf naheliegenden Vermutungen beruht, mein Griechisch so schändlich ist wie meine Kenntnis Shakespeares, den ich erst mit dreißig im Original gelesen habe (als ich mit einer Schauspielerin schlief, die Cordelia im Park vermurkste, wo,

      aber ich konnte nicht

      mein Herz auf meine Lippen heben), so dass Schneidermann beispielsweise Hesiod für mich übersetzen musste, der lehrt, dass Orpheus, er war der Sohn einer Muse:

      Für mich war ihr Name einst Eva und heute Abend María und Frieda und Jadwiga, Akira und Naomi und,

      Orpheus und ich, liederliche »Väter der Lieder«,

      um Pindar zu glossieren, aber von dem wollen Sie wohl nichts wissen, von Pindar, dem dauernden Revisionisten dauerhafter Mythen, sondern lieber von meinen Frauen, den Kreischerinnen da draußen im Publikum, die mit meinem Mythos warm wurden, aber statt ihn zu erneuern, zu revidieren oder zu revisionieren, waren sie einfach seine Mitläuferinnen und zwar auf Stöckelschuhen durch die Citys, gaben ihm einfach neues Leben und Einfluss, dabei kennen Sie sie erst, wenn Sie mich missverstehen:

      dass dieses Konzert und seine wahre Kadenz sich weniger um die Kunst als um mich drehen, darum geht es weniger als um mich, was letztlich vielleicht die sogenannte Charakterschwäche der Musik, ihrer Aufführung und ihres Solisten ist, die sogenannte klassische »Charakterschwäche« (griechisch hamartia laut Aristoteles laut Schneidermann, in der Thora wird sie als Sünde übersetzt) in aller Musik, die ich spiele, dass ich wichtiger bin als Sie (mein Gott, das ist ja so romantisch!) – glauben Sie, ich zahle, um mir zuzuhören? glauben Sie, ich spiele für Sie und nicht für mich? glauben Sie, bei dieser Kadenz, dieser falschen Kadenz, ginge es darum, mich reinzuwaschen? darum, etwas an Sie weiterzureichen? um ein Vermächtnis?

      diese Kadenz ist in eine größere Kadenz eingeschachtelt und diese wiederum in eine noch größere und so weiter (Schneidermann, er liebte die Gnostiker), und auch der ungeliebte Schneidermann ist nur ein Schnörkel – trotzdem würden Sie mich noch kennen,

      würden noch abgetrennt von meinem Stiel meinen Kopf kennen, der beinamenduftend in der Mitte treibt und immer noch singt,

      würden noch meine Stimme erkennen, wenn Sie bloß zuhören würden, aber stattdessen reden Sie, schimpfen, tratschen, planen Zukünfte und Glück (wo gehen wir zum Dessert hin, wen heiraten wir),

      geben Geschwätz von sich in seinen ungeahntesten, vielleicht aber auch seinen geahntesten Formen: Weitschwatz, Nahschwatz, Nasenschwatz, Beiseite- oder Side-Schwatz (Upper-Eastside-Schwatz, Upper-Westside-Schwatz),

      Kleinschwatz, Großschwatz, Dasschwatz, Diesschwatz,

      Überschwatz, Unterschwatz

      nter Schwatz, xSchwatz,

      Schwatzen bis zur Apokalypse, eine Lippenmeute, ein Massenkiebitzen, Lärmumlaufbahnen um meinen Kopfplaneten:

      Sie diskutieren ständig gewichtige Angelegenheiten (glauben Sie)!

      machen Geschäfte von Schöpfungsausmaßen, Gaunereien von biblischer Größe (hoffen Sie)!

      lassen berühmte Namen fallen, heben sie wieder auf, stauben sie ab, schicken sie dem Absender zurück, Einladungen zum Abendessen werden von einem Nieser oder einem Husten übertönt, Verlobungen werden gefeiert, gelöst und wieder bekannt gegeben, wie in Weltreichen werden Ränke gesponnen und so lässig wie möglich wieder aufgespleißt, nicht wahr, Mr. Rothstein?

      Ihre Frau sortiert wie alle Ehefrauen die Onyx-Innereien Ihrer Handtasche, und Sie,

      falls Sie nicht alle längst beim Empfang trinken, aber langsam, ritardando:

      Sie erhalten schon noch Ihre Chance zur Gegenrede, zum Überkreuzverhör, wenn ich durch und tot bin.

      Weil ich Schneidermann kannte. Weil ich Schneidermanns Schüler war. Weil ich mit Schneidermann gelebt habe. Weil ich ohne Schneidermann gelebt habe. Weil ich seine Pflanzen gegossen habe, wenn er Konzerte gab. Weil ich seine Sprossen gegossen habe (die Töchter, tot in Birkenau), wenn er Konzerte gab und Vorträge hielt.

      Mit wem reden Sie da, Chief? Ihr Megafon braucht kein Mensch!

      Nein, seien Sie doch vernünftig! Weil ich seine Frau gegossen habe (tot in Birkenau) und seine Töchter (tot in Birkenau), wenn er Konzerte gab, Vorträge hielt, unterrichtete und, nein!

      Ich werde nicht von meinem Berg herabkommen, bevor ich meine Tafeln erhalten habe! Und weil ich seine Frau und seine Töchter gegossen habe und manchmal alle zusammen, wie ich zugeben muss,

      und gleichzeitig war Schneidermann fort und gab Konzerte, hielt Vorträge, unterrichtete und dirigierte: so praktizierte ich, was die junge Russin, mit der ich seit einiger Zeit Umgang pflege

      (ein Ausnahmetalent, feurig, technisch unausgereift, ungeschliffen, heiß und wild, Körper knabenhaft oben und gewölbt unten, Schenkel aus dem 19. Jahrhundert, das rote Haar mit eingefärbten dunklen Strähnen, aber sie ist atemberaubend, wenn die Trägerchen ihres altmodischen Konzertkleids in einer schnellen Passage herabgleiten und ihre schweißfeuchten Nippel entblößen), was diese junge Emigrantin, die ich bei unseren wöchentlichen Privatsitzungen ebenfalls gieße, mein Praktizisieren nennt,

      ja, ich habe meine Medikamente genommen, meine Pillen, ja, ich habe daran gedacht, und nein, die Diagnose hat absolut nichts damit zu tun! Da hab ich mir aber Besseres von Ihnen versprochen, Doc Alan! Kommen Sie!

      und der Rest von Ihnen kann ruhig weiter am Kalb herumschmelzen, jetzt, wo ich so durcheinander bin, wie meine Medikamente es nicht waren, wo war ich stehengeblieben?

      es geht darum, dass ich wusste, dass ich Schneidermann


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