Verlass die Stadt. Christina Maria Landerl
Orte und außergewöhnliche Musik wenig übrig und sind dennoch gekommen. Gudrun hat sie eingeladen, sie hat sie auf die Gästeliste gesetzt, und in diesem Fall hat man zu kommen, auch wenn man müde ist, auch wenn man lieber zu Hause wäre, auch wenn man keine Lust hat.
Als sie an der Kasse vorbei sind, sieht Max sich irritiert um.
Wonach riecht es hier?
Es riecht komisch, bestätigt Peter, obwohl ihm kein komischer Geruch aufgefallen ist.
Nach Metall? Nach Schweißen?
Nach Schweiß?
Widerlich.
Hast du Gudrun schon gesehen?
Nein. Hier sehen alle aus wie Gudrun, oder?
Du meinst, die Frauen.
Ich meine alle. Sie sehen alle aus wie Künstler von der Stange.
Auf der Bühne steht ein einsames Mikrofon, elektronische Musik kommt aus Lautsprechern. Max und Peter wissen nicht, wohin mit sich, kennen niemanden, können Gudrun nirgends sehen, sind durstig und gehen an die Bar, die aus leeren Bierkisten gebaut ist. Während sie sich anstellen, boxt jemand Peter in den Rücken.
Schön, dass ihr da seid, sagt Gudrun.
Ja, sagen sie, fast gleichzeitig, nicht ganz.
Habt ihr Margot gesehen? Ich dachte, sie kommt mit euch.
Sie schütteln ihre Köpfe.
Sie wird schon noch kommen.
Sie kommt doch immer, wenn du spielst.
Wann bist du eigentlich dran?
Jetzt. Wir sehen uns später.
Während der ersten beiden Nummern ist Gudrun unruhig. Sie hat den Eingang im Blick. Sie sucht die vielen Reihen aus Köpfen ab, immer wieder von vorne nach hinten.
Bei der dritten Nummer siegt der Größenwahn über alles andere. Die Köpfe haben angefangen zu wippen, die Menschen beginnen zu tanzen. Gudrun winkt dem Tontechniker, hebt langsam ihre Hand: Lauter.
Als sie von der Bühne geht, wird ihr von allen Seiten auf die Schulter geklopft. Dass Max und Peter nicht mehr da sind, bemerkt sie, aber es ist ihr egal; es ist jetzt nicht wichtig.
(Wien im Herbst, Wien im Winter)
Wien kann einem ganz schön Angst machen, wenn man im Herbst hier ankommt. Jede Stadt kann einem Angst machen, wenn man vom Land kommt, vor allem im Herbst, vermute ich, aber ich weiß es nicht sicher.
Allein, wenn man an den Gleisen der U-Bahn steht, hat man viel zu befürchten. Jemand könnte sich vor den einfahrenden Zug werfen. Man könnte vor den einfahrenden Zug gestoßen werden. Man könnte versehentlich vor den einfahrenden Zug springen.
Es gibt viele Gründe, Angst zu haben, zu jeder Jahreszeit. Der Herbst aber, der tagsüber oft freundlich tut, erwischt einen abends eiskalt. Die hohen Häuser in der Josefstadt halten schon früh jedes Licht aus den Gassen fern, und wenn man die Sonne untergehen sehen will, muss man auf einen der umliegenden Hügel fahren, auf den Leopoldsberg, auf den Kahlenberg, auf den Hermannskogel. Als ich hier ankam, kannte ich diese Hügel noch nicht.
Jetzt noch vom Nebel anzufangen erübrigt sich. Über den Hochnebel, der im November über die Stadt herfällt, muss man kein Wort verlieren, außer, dass keiner der Hügel hoch genug ist, um da herauszukommen.
Wer den Winter in Wien kennt, weiß, dass er lang ist. Er ist lang, er ist kalt, er ist dunkel, aber das unterscheidet ihn nicht von den Wintern anderer Städte in ähnlichen Gegenden. Wer ihn nicht kennt, dem sei gesagt, dass der Winter die Zeit der Verrückten ist, und ob das überall so ist, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass man in Wien dann oft welche sieht; einen Mann, der einen Topf als Hut trägt und mit dem Kochlöffel darauf einschlägt oder eine Dame, die in der U-Bahn Operetten singt. Das klingt vielleicht lustig, aber das ist es nicht. Und es kann auch passieren, dass einem jemand auf offener Straße an die Gurgel geht oder ohne Anlass gegen das Schienbein tritt.
Wenn die Nacht schon mitten am Tag beim Fenster hereindunkelt und man keine Vorhänge hat und ihr ausgeliefert ist, wenn der Gasofen die Küche und das Bad nicht beheizt, an manchen Tagen gar nicht in Gang zu bringen ist, und wenn man aus Angst vor der Kälte drinnen und vor den Verrückten draußen nur noch im Bett bleiben will, dann kann es unter Umständen helfen, hinauszugehen und sich in deren Kreis einzuordnen.
(Das neue Lied)
Es ist kalt, richtig kalt, höchstens sechs Grad über Null. Peter friert, er hat eine Gänsehaut, lange dunkle Haare stehen senkrecht von seinem Arm ab. Die Hand, die das Telefon hält, zittert. Aber es ist doch Sommer! Und warum trägt er nur ein T-Shirt, wenn es so kalt ist?
Es ist leider so, dass diese Kellnerin, die andere Kellnerin, die nicht Gudrun ist, überall gleichzeitig zu sein scheint. Im Schanigarten, wo es so heiß ist, dass kein Mensch da sitzen kann, hinter der Bar, in der Vorratskammer und auf dem Klo. Es ist leider so, dass er ihr nirgends entkommt, dass er nirgends außer in diesem winzigen Kühlraum, zwischen Fleisch und Gemüse stehend, seine Ruhe hat. Hier geht sie nicht rein, die andere Kellnerin. Sie will sich nicht erkälten.
Peter wird sich erkälten. Er friert und hängt in der Leitung. Zum wiederholten Mal erreicht er nur die Mailbox und hört keine Ansage, sondern ein Lied, wie früher auch, aber er hört nicht mehr dasselbe Lied, es ist nicht mehr Falco, sondern etwas, das für Peter nach Neil Young klingt. Es ist ein neues Lied auf der Mailbox.
Margot. Peter spricht. Ruf mich bitte zurück. Ich habe schon ein paar Mal angerufen.
Ja. Schöne Nummer. Also dann. Bis bald.
Wien, nur Wien, du kennst mich up, kennst mich down, denkt Peter, als er den Kühlraum verlässt und ihn die stehende heiße Luft im Lokal fast in die Knie zwingt, sodass er sich rasch auf einen der Barhocker setzen muss.
Er fragt sich, warum sie das gelöscht hat, warum sie ihr Lied gelöscht hat. Und er erinnert sich, dass schon immer, wenn er angerufen hat, dieses Lied auf ihrem Anrufbeantworter lief. Vor zehn Jahren schon. Er weiß noch, wie er zum ersten Mal angerufen hat, wie nervös er war und dass er dieses Lied gehört hat. Und immer lief dieses Lied, wenn sie zu Hause waren, oder auf Partys, oder in Lokalen, immer lief Vienna Calling, oder sie haben den DJ gebeten, es zu spielen. Es ist doch unser Lied, denkt Peter.
Gottlob endet die Schicht der anderen Kellnerin bald und Gudrun kommt, um sie abzulösen; gottlob wird Gudrun bald kommen und er kann ihr das neue Lied vorspielen, er kann sie fragen, was sie davon hält.
Peter, du Banause, das ist nicht Neil Young, das ist Dylan.
Aber was für ein Lied.
Es heißt: I’m not there. Ich bin nicht da.
Danke, ich kann englisch.
You’re welcome.
Aber was bedeutet es.
Das ist bei Dylan nicht so einfach. Dass Margot weg ist, vermute ich.
Was machen wir jetzt.
Einen Ausflug in die Florianigasse.
Morgen. Ich kann ja nicht einfach zusperren.
(Florianigasse)
Es ist Sonntagvormittag und es ist schwül. Es ist nicht mehr heiß; trotzdem schwitzt man und fragt sich, warum. Der Kopf tut einem weh, und man wundert sich, weil man doch gestern gar nicht viel getrunken hat.
Die Josefstadt schläft nicht mehr jetzt. Ältere Damen führen ihre Hunde durch die Gassen, die eine oder andere ist wohl auch in der Kirche gewesen. Ein paar Läufer schaffen ihre ermüdeten Körper aus dem Volksgarten nach Hause. Es ist trotzdem still. Aber man darf sich die Stille nicht als angenehm vorstellen. Es herrscht eine Stille, die anstrengend ist.
Gudrun steht in der Bäckerei, die sonntags geöffnet hat, sie muss sich noch schnell eine Semmel kaufen, sie hat nicht gefrühstückt. Vor ihr stellen sich müde Jogger um Vollkornbrot